3. Die Ereignisse in den Tagen um den 17. Juni 1953

Versuch einer Rekonstruktion der Arbeitskämpfe und Bevölkerungsproteste

Eine regionalspezifische Untersuchung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 hat meines Erachtens eine möglichst detaillierte Kenntnis der Geschehnisse im zu untersuchenden Gebiet zur Voraussetzung, die nachweisbar mit diesem Datum in Zusammenhang stehen. Im folgenden Abschnitt möchte ich den Versuch unternehmen, eine solche Darstellung für den Kreis Bitterfeld anzufertigen, wobei ich die Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens nicht unerwähnt lassen möchte. Zunächst birgt bereits der Umfang der zur Verfügung stehenden Quellen die Gefahr der Verzettelung im Detailgewirr. Aus einer Vielzahl von Aktennotizen und Berichten verschiedener Verwaltungsbereiche und -ebenen, die nicht selten ungenau formuliert und nur schwer chronologisch einzuordnen sind, lassen sich eine Fülle von Informationen gewinnen, deren Inhalt oftmals widersprüchlich ist. Hier war ich bemüht, im Kontext plausible Angaben zu verwenden, die sich zudem durch mehrfache Erwähnung weitgehend verifizieren ließen. Informationen, die sich aus Quellen gewinnen ließen, die in unteren Verwaltungs- und Organisationsebenen erarbeitet wurden, habe ich grundsätzlich Vorrang vor solchen aus mittleren und höheren Chargen eingeräumt, da hier - meiner Auffassung nach - der höchste Grad an unverfälschter Berichterstattung zu erwarten war. Die mir vorliegenden Augenzeugenberichte sind in ihrer Darstellung der Ereignisse durch die subjektiven Erlebnisperspektive der berichtenden Personen geprägt; diese Eindrücke können in der retrospektiven Erinnerung des Einzelnen verfälscht wiedergegeben sein, deshalb waren diese Berichte nur eingeschränkt für meine Darstellung nutzbar, wenngleich sie für bestimmte Teilbereiche des folgenden Abschnitts quasi die einzige Quellengrundlage darstellten. Die Ereignisse werden knapp und weitgehend ohne tiefere Ursachenanalyse dargestellt, insbesondere für den 17., 18. und 19. Juni verdichteten sich die Geschehnisse in einer solchen Fülle, daß eine eingehendere Betrachtung selbst der wesentlichen Vorfälle den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

Ich kann nicht den Anspruch erheben, alle mit dem 17. Juni 1953 im Industrierevier Bitterfeld-Wolfen in Zusammenhang stehenden Ereignisse zu erwähnen, da hierfür die in den Quellen überlieferten Informationen nicht ausreichen würden. In meiner Darstellung werde ich mich vor allem auf die Bitterfelder und Wolfener Großbetriebe und die Stadt Bitterfeld konzentrieren; darüber hinaus kann ich lediglich Beispiele für das Geschehen im Kreisgebiet anführen.

Die Verkündung des Neuen Kurses überraschte die Werktätigen im Bitterfelder Revier ebenso wie die dortigen Staats- und Parteifunktionäre. Zwar hatten sich die allgemeinen Lebensverhältnisse in den letzten Monaten - auf Grund einer tiefen wirtschaftlichen Krise und einer Vielzahl administrativer Maßnahmen zu ihrer Behebung - drastisch verschlechtert, und die Angehörigen der Sicherheitsorgane mußten dem sich verschärfenden Klassenkampf durch erhöhte Wachsamkeit Rechnung tragen, doch wußte der Operativstab des VPKA Bitterfeld der BDVP Halle über den Monat Mai des Jahres 1953 zu berichten, daß es dem imaginären "Gegner ... nicht gelungen [sei], auch nur eine nennenswerte Störung hervorzurufen"; stolz war man insbesondere darauf, daß der Gegner nicht "eine Lücke zu seinem schändlichen Treiben ... finden" konnte. Aus der allgemeinen Situation im Kreis Bitterfeld konnten die hiesigen Partei-, Staats- und Sicherheitsorgane am 9. Juni 1953 - zum Zeitpunkt der Verkündung des Neuen Kurses - offenbar keinerlei Schlußfolgerungen hinsichtlich einer Verschärfung des Klassen-kampfes ziehen.

Den einzelnen Arbeiter indes interessierte vor allem der Inhalt seiner Lohntüte. Offenbar war dieser bei den Beschäftigten dreier Abteilungen des EKB am Ende der ersten Juniwoche geringer als üblich ausgefallen. Seit dem 1. Juni galten hier administrativ, d. h. ohne ausführliche Diskussion mit den Arbeitern, erhöhte Normen. In der Nachtschicht des 10. Juni kam es daraufhin in den betroffenen Abteilungen des EKB zu Sitzstreiks. Nach einer Stunde sollen diese Streiks beendet worden sein, weil die Betriebsleitung die Nachzahlung der Fehlbeträge zugesichert hatte. Zu einem ähnlichen Arbeitsboykott soll es am 15. Juni in der Kunststoffabteilung des EKB gekommen sein, als sich die dort Beschäftigten gegen die Einführung eines reorganisierten Arbeitsverfahrens wehrten, weil sie dadurch Einbußen im Umfang ihres Lohns befürchteten. Auch diese Aktion soll nach einer mehrstündigen Diskussion zwischen Werktätigen und verantwortlichen Funktionären mit der Rücknahme der arbeitsorganisatorischen Neuerung geendet haben. Zwei Beispiele für den punktuellen Widerstand der Arbeiterschaft in diesen Tagen, der gegen eine administrative Betriebspolitik gerichtet war, welche im krassen Gegensatz zu der offiziösen Propaganda der SED und der Regierung der DDR stand. Diese Politik war aber vor allem nicht mit den Erfahrungen der Arbeiterschaft mit einer demokratischen Betriebsführung zwischen 1945 und 1947/48 in Übereinstimmung zu bringen. Die Verbitterung der Werktätigen über die avisierten und teilweise bereits realisierten Normenerhöhungen, welche durch die Liberalisierung der Politik von SED und Regierung gegenüber den bürgerlichen Mittelschichten im Zuge des Neuen Kurses noch verstärkt wurde, ließ diese sich auf erprobte Kampfmittel besinnen, welche sich - zunächst in kleinem Rahmen - als wirksam erwiesen.

Die Kreisleitung der SED in Bitterfeld führte nach der Verkündung des Neuen Kurses zunächst eine Beratung mit ca. 250 Kadern aus Partei und Massenorganisationen durch, auf welcher diese Kader für ihren Einsatz in zahlreichen Belegschaftsversammlungen während der folgenden Tage ideologisch so präpariert werden sollten, daß sie den zu erwartenden harten Auseinandersetzungen mit den Werktätigen stand zu halten vermochten. Diese Belegschaftsversammlungen verliefen für die SED durchaus nicht positiv, da in "diesen Kurzversammlungen ... die Hauptsprecher diejenigen [waren], die sonst zu einer jeden Frage oppositionelle Stellung einnehmen". Die Funktionäre hätten hier bereits deutlich die negative Stimmung vornehmlich unter den nicht politisch organisierten Arbeitern erkennen können; so wurden verantwortlichen Funktionären Konsequenzen für die ungünstige Lage, in welcher sich die Werktätigen wähnten, angedroht oder die baldige Auflösung aller Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) prognostiziert. Die Bitterfelder Nomenklatur reagierte jedoch eher abwartend auf den sich offenbarenden Konflikt zwischen Arbeiterschaft und politischer Führung.

Die relative Labilität, mit der die verantwortlichen Funktionäre in den Betrieben auf die Forderungen der Arbeiter reagierten, kann als Indiz für ihre starke Verunsicherung im Bezug auf die Normenerhöhungen nach der Verkündung des Neuen Kurses gewertet werden.

"In den Abendstunden des 16. 6. 1953 war ... in den drei Grossbetrieben unter den Arbeitern Unruhe ... zu verzeichnen", auch kam es unter ihnen teilweise zu heftigen Diskussionen. Die Funktionäre der Betriebsparteiorganisationen der SED reagierten auf die Empfehlung des Politbüros der SED vom 16. Juni 1953, den "Beschluß der Regierung vom 28. Mai 1953 [zur Normenerhöhung] ... zu überprüfen", welche sie offenbar als ein Instrument zur Beruhigung der Arbeiterschaft auffaßten, mit der Durchführung von Agitationseinsätzen während der Nachtschicht von 16. zum 17. Juni 1953 in der Farbenfabrik - hier sogar unter Beteiligung der Angehörigen des Betriebsschutzes - und der Filmfabrik Wolfen, "die jedoch keinen Erfolg zeigten".

Beginn

 

3. 1. Der 17. Juni 1953

3. 1. 1. Die Ereignisse in den Großbetrieben und in der Stadt Bitterfeld

Der morgendliche Schichtwechsel zwischen 6.00 und 7.00 Uhr wurde in den Bitterfelder und Wolfener Großbetrieben weitgehend normal vollzogen. Lediglich in den Werkstätten I und II des Werks Freiheit der Braunkohlenverwaltung Bitterfeld wurde die Arbeit nicht aufgenommen, da man hier bereits über die Ereignisse in Berlin diskutierte. Zwischen 7.30 und 7.40 Uhr traf bei dem VPA (B) der Farbenfabrik Wolfen eine Meldung über eine Demonstration von mehreren hundert Arbeitern innerhalb der Farbenfabrik ein, als deren Ursprung die Werkstätten IV und V benannt wurden. Hiervon wurde offenbar umgehend das VPKA, die Dienststelle der Staatssicherheit und die Kreisleitung der SED in Bitterfeld in Kenntnis gesetzt, da deren Leiter - VP-Kommandeur Nossek, Major Scharsig und Kipp - wenige Minuten später in das Werk kamen. Der Demonstrationszug traf kurz vor 8.00 Uhr auf dem Platz vor dem Verwaltungsgebäude nahe der Pforte II ein. Zu dieser Zeit hatte er ein Größe von ca. 600 bis 800 Personen, ein ständiger Zulauf von Arbeitern ließ ihn jedoch rasch auf ca. 1.500 Mann anwachsen. Gegen 8.00 Uhr versuchte der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Kipp mittels eines gerade eingetroffenen Lautsprecherwagens zu den Versammelten zu sprechen, wurde aber durch lautstarke Äußerungen der Demonstranten daran gehindert. Nach einigen Minuten erklomm der Arbeiter Rudi Börner den Wagen und forderte seine Kollegen über die Lautsprecheranlage zur "solidarischen Aktion mit Berlin" auf. Des weiteren forderte er:

Inwieweit diese hauptsächlich politisch motivierten Forderungen wirklich bereits zu diesem Zeitpunkt aufgestellt wurden, oder ob diese von dem berichterstattenden VP-Angehörigen auf Grund zeitlich später erworbenen Wissens in den am 24. Juni 1953 entstanden Bericht eingeflochten wurden, kann nicht mehr nachvollzogen werden; jedoch mag ein scheinbar bereits zu diesem frühen Zeitpunkt aufgestellter politischer Forderungskatalog der Untermauerung der offiziösen These vom geplanten und durch Agenten gesteuerten Putschversuch dienlich gewesen sein.

Am Ende der kurzen Kundgebung vor dem Verwaltungsgebäude der Farbenfabrik Wolfen rief Rudi Börner die Versammelten zu einem Marsch nach der Filmfabrik auf, wozu diese ohne Verzögerung aufbrachen.

Der Wachhabende des VPA (B) der Farbenfabrik organisierte unterdessen die Bereitschaft und Bewaffnung der im Werk anwesenden Angehörigen der Polizei. Der Mittwoch war zu dieser Zeit innerhalb der Staatsorgane der DDR der ideologischen Schulung der Mitarbeiter vorbehalten, so daß an diesem Tag nicht nur die Angehörigen des Wach- und Bereitschaftsdrittels der VPA (B)-Besatzung, sondern auch die dienstfreien Polizisten im Werk anwesend waren. So konnte quasi die vollständige Mannschaft des VPA (B) der Farbenfabrik Wolfen zur Sicherung des Werkes herangezogen werden. Zu dem Zeitpunkt, als die Bewaffnung der Betriebsschutzpolizisten abgeschlossen war, gab der Chef der Bitterfelder MfS-Dienststelle die Anweisung, aus Sicherheitsgründen alle Waffen im Werk sicher zu verwahren und die Sicherheit selbst durch Verstärkung der einzelnen Posten zu gewährleisten.

Die Belegschaft der Farbenfabrik konnte das Werk ungehindert verlassen, da es den verantwortlichen Funktionären der Sicherheitsorgane für die Gewährleistung der Unversehrtheit der Produktionsanlagen geeigneter erschien, die konfliktbereiten und teilweise zur Gewaltanwendung neigenden Arbeiter vom Werk fern zu halten. War die Unterstellung einer latenten Bereitschaft zur Beschädigung bzw. Zerstörung der eigenen Arbeitsgrundlagen einerseits Ausdruck eines tiefen Mißtrauens gegenüber der Arbeiterschaft, so muß das Verhalten der Polizei freilich auch als Eingeständnis des eigenen Unvermögens zum ausreichenden Schutz der Produktionsmittel angesehen werden. Was hätten schließlich einige Polizisten gegen mehrere tausend Arbeiter ausrichten sollen, außer ein Blutbad unter der eigenen Klasse anzurichten?

In der Filmfabrik Wolfen bemerkten Angehörige des Betriebsschutzamtes gegen 7.30 Uhr die ersten sich auf dem Betriebsgelände bewegenden Arbeitergruppen von zehn bis 15 Personen, als deren Ursprung die technische Werkstatt T III Süd ausgemacht wurde. Diesen Arbeitern schlossen sich im Betrieb ständig weitere Belegschaftsmitglieder an, u. a. aus der technischen Werkstatt T III Nord, der Filmwerkstatt T II und der Hauptwerkstatt T II - von diesen Demonstranten sollen bereits Propagandamaterialien zerstört worden sein. Zwischen 8.00 Uhr und 8.15 Uhr versammelten sich vor dem Verwaltungsgebäude 041, dem Sitz der sowjetischen Generaldirektion und der deutschen Werksleitung, ca. 6.000 Menschen. Auf dem Balkon dieses Gebäudes erschienen der sowjetische Generaldirektor Morossow, der deutsche Werkleiter Dr. Bienen, der 1. Sekretär der BPO Völkel, der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung Jarzewski sowie der Arbeitsdirektor Holtkamp. Ihre Versuche zu den Belegschaftsmitgliedern zu sprechen, scheiterten zunächst an deren Lautstärke, bis schließlich der deutsche Werkleiter Dr. Bienen einige Ausführungen über das bereits geregelte Problem der Normenerhöhungen machen konnte und den Versammelten Verhandlungen mit der Werkleitung anbot, wozu eine Delegation aus der Mitte der Belegschaft gebildet werden sollte. In der Zwischenzeit hatten sich bereits sechs Belegschaftsmitglieder ihren Weg auf dem Balkon des Verwaltungsgebäudes 041 gebahnt; diese sollten nun - per Akklamation bestimmt - den Kern der Verhandlungsdelegation der Belegschaft darstellen. Der Schlosser Gerhard Müller ergriff nach einem kurzen Beitrag des sowjetischen Generaldirektors das Wort und forderte nach Angaben des kommissarischen Leiters des VPA (B) Miarka:

Auch für die politische Qualität dieser Forderungen gelten bereits oben angemeldete Zweifel. Plausibler erschienen da schon die Forderungen nach Entlassungen bestimmter Funktionäre aus dem Betrieb, nach Übergabe des Werkfunks und eines Lautsprecherwagens an die Belegschaft sowie nach dem Einsatz der Normenbearbeiter in der Produktion und der Auflösung der Abteilung zur Bearbeitung der technisch begründeten Arbeitsnormen. Weiterhin wurden der Betriebsschutz und die örtliche Polizei unter Androhung eines Generalstreiks aufgefordert, keine Maßnahmen gegen die Streikenden einzuleiten. Den Demonstranten soll es gegen 8.30 Uhr gelungen sein, die Kommunikationszentralen des Werkes - Telefonvermittlung und Werkfunk - zu besetzen.

Der ebenfalls zu dieser Zeit erfolgten Aufforderung des deutschen Werkleiters Dr. Bienen, die Arbeit wieder aufzunehmen und insbesondere die Funktion der "lebenswichtigen Betriebe aufrechtzuerhalten", begann ein Großteil der versammelten Belegschaftsmitglieder Folge zu leisten, als gegen 8.30 Uhr die Ankunft von ca. 1.500 demonstrierenden Arbeitern der Farbenfabrik an der Pforte I der Filmfabrik von einem Mitglied der Belegschaftsdelegation bekanntgegeben wurde. Der von dem Vorplatz des Verwaltungsgebäudes 041 abfließende Strom von Belegschaftsmitgliedern wandte sich daraufhin offenbar dem Haupttor (Pforte I) des Werkes zu, welches - da es verschlossen war - von Arbeitern der Film- und Farbenfabrik gewaltsam geöffnet wurde. Nachdem dieser Demonstrationszug in die Filmfabrik eingedrungen war, kam es vor den Gebäuden 041 und 044 zu ersten größeren Zerstörungen von Propagandamaterialien. Hierbei mögen die nun einsetzenden Veränderungen in der Zusammensetzung der Streikenden durch das Zuströmen betriebsfremder, d. h. nicht in Film- oder Farbenfabrik beschäftigter Personen eine Rolle gespielt haben, was allerdings nicht konkret nachzuweisen ist. Vor dem Verwaltungsgebäude 041 kam es nun zu einer zweiten Kundgebung, auf der die Arbeiter der Film- und Farbenfabrik sowie die anwesende Wolfener Bevölkerung - insgesamt ca. 10.000 Menschen - von einem Streikaktivisten der Farbenfabrik zu einer Demonstration zum EKB aufgefordert wurden. Bevor sich der Demonstrationszug dorthin in Bewegung setzte, ließ sich die Belegschaftsdelegation der Filmfabrik wiederum per Akklamation zur Streikleitung bestimmen, außerdem wurde ein neun Punkte umfassender Forderungskatalog verlesen, dessen Inhalt zwar nicht mehr rekonstruiert werden kann, jedoch weitgehend mit den bereits erwähnten Forderungen übereingestimmt haben dürfte. Gegen 8.55 Uhr begannen die Verhandlungen zwischen der Streik- und der Werkleitung der Filmfabrik Wolfen über die aufgestellten Forderungen.

Die vor dem Verwaltungsgebäude 041 der Filmfabrik versammelten Arbeiter und Wolfener Bürger begannen zwischen 9.00 Uhr und 9.20 Uhr ihren Marsch zum EKB. Der Demonstrationszug mit einer Größe von 6.000 bis 10.000 Menschen bewegte sich durch die Filmfabrik in Richtung Greppin. Im Werk wurden weitere Sichtwerbungselemente zerstört. Den Demonstrationszug begleitete ein Lautsprecherwagen aus der Filmfabrik, der außerhalb des Werksgeländes fuhr und die Bevölkerung zu einer Kundgebung in Bitterfeld aufrief.

Im EKB begannen gegen 8.00 Uhr ca. 330 Beschäftigte aus der Elektro-, der Kunststoff- und der Meßwerkstatt sowie der wärmetechnischen Abteilung gegen die vermuteten Verhaftungen des Lehrlings Karl Mertens und des Arbeiters Weiss aus der Kunststoffwerkstatt zu protestieren. Sie marschierten in Richtung des Gebäudes 209, dem Sitz der SED-Parteileitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL). Gegen 8.40 Uhr sollen im EKB bereits erste Sichtwerbungselemente beseitigt worden sein.

Mit dem Beginn der Frühstückspause um 9.00 Uhr kam es dann vor dem Gebäude 209 zu heftigen Diskussionen zwischen Belegschaftsmitgliedern und Funktionären des betrieblichen Partei- und Gewerkschaftsapparates, hierbei traten der Elektromechaniker Paul Othma und der Mechaniker Günther Steckel als engagierte Streiter für die Interessen der Belegschaft hervor. Die Ansammlung vergrößerte sich ständig, die Atmosphäre erhitzte sich an den widerstreitenden Meinungen über Absetzung und Neuwahl der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung. Gegen 9.20 Uhr forderte Paul Othma seine Kollegen zur Solidarität mit den Berliner Arbeitern auf: "Unsere Parole heißt: Wir fordern Freilassung unserer politischen Häftlinge!" Die Protestierenden formierten sich innerhalb weniger Minuten zu einem Demonstrationszug, der durch das Werk in Richtung Bitterfeld führte, dabei war auch hier die Zerstörung von Sichtwerbungselementen auf dem Weg durch das EKB charakteristisch für den Verlauf der Demonstration. Politische Forderungen sollen - nach einem Bericht des VPA (B) - von den Demonstranten deutlich skandiert worden sein.

Gegen 9.45 Uhr erreichte die Spitze des Demonstrationszuges aus Wolfen, der inzwischen auf ca. 12.000 Personen angewachsen war, den nördlichen Eingang des EKB. Der größte Teil des Zugs marschierte durch das Werk, um sich mit den hiesigen Arbeitern zu vereinigen. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch damit begonnen, das Partei- und Gewerkschaftsgebäude des EKB zu demolieren, außerdem kam es zu ersten Tätlichkeiten gegen Funktionäre. Bis gegen 10.45 Uhr hatte der vereinigte Demonstrationszug der Film- und Farbenarbeiter sowie der Arbeiter aus dem EKB das Werk wieder verlassen.

Aus dem Werk Holzweißig der Braunkohlenverwaltung Bitterfeld wurden gegen 8.30 Uhr Diskussionen unter den dort tätigen Angehörigen des VEB EKM Rohrleitungsbau und der Bauunion Bitterfeld gemeldet, die nach und nach auf die Stammbelegschaft übergriffen. Gegen 9.00 Uhr verließen die Angehörigen der Fremdfirmen und die ersten Braunkohlenarbeiter das Werk, um nach Bitterfeld zu marschieren. Gegen 10.00 Uhr begannen auch im Kraftwerk Karl Liebknecht Angehörige von Fremdfirmen mit Diskussionen über die Situation in Berlin. Auch die Angehörigen der in den Großbetrieben tätigen Fremdfirmen, meist Bauleute, hatten sich den Demonstrationen angeschlossen.

Gegen 10.00 Uhr meldeten Kriminalpolizisten dem VPKA, daß sich Demonstrationszüge aus drei Richtungen dem Platz der Jugend im Zentrum Bitterfelds näherten. Aus nördlicher Richtung kamen über die Anhalt- und Dessauer Straße diejenigen Wolfener Demonstranten, welche sich nicht im EKB aufgehalten hatten; über die Zörbiger Straße marschierten aus westlicher Richtung die ersten Arbeiter aus dem EKB nach Bitterfeld hinein und über die Straße der Aktivisten bewegte sich aus südwestlicher Richtung der Demonstrationszug aus dem Werk Holzweißig zum Stadtzentrum. Die Gesamtzahl der Demonstranten belief sich beim Erreichen der Stadt Bitterfeld auf ca. 20.000 bis 25.000 Menschen.

Wie bereits in Wolfen, so versuchten auch die Demonstranten in Greppin und insbesondere im Stadtgebiet von Bitterfeld die Beschäftigten von Klein- und Mittelbetrieben, Verkaufseinrichtungen und Verwaltungen teilweise durch schlagkräftige Argumente zum Mitmarschieren zu bewegen; viele Personen, darunter Hausfrauen, Rentner und Jugendliche, schlossen sich von selbst den Demonstrationszügen an. Am Rande der Demonstrationsstrecken wurden wie zuvor in den Betrieben Sichtwerbungselemente, Politikerbilder und Propagandaparolen beseitigt, dabei kam es teilweise zu exzessiven Handlungen, bei denen sich - nach Polizeiangaben - vor allem Jugendliche hervorgetan haben sollen.

Gegen 9.00 Uhr wurde auf dem Betriebsgelände der Bauunion Bitterfeld eine Belegschaftsversammlung abgehalten, während der man über den Neuen Kurs und die fehlerhafte Arbeit der Regierung diskutierte. Zu dieser Zeit erreichte die Spitze des Demonstrationszuges aus dem EKB das Betriebsgelände der Bauunion; die durch die Diskussionen auf ihrer Versammlung in Kampfstimmung versetzten Beschäftigten der Bauunion schlossen sich dieser Demonstration an. Auf der Baustelle Block 72 an der Bitterfelder Saarstraße - hier wurden wahrscheinlich Wohnungen errichtet - des Kreisbaubetriebes Bitterfeld forderte gegen 10.00 Uhr sogar der BGL-Vorsitzende des Betriebes die Bauarbeiter auf, die "Arbeit niederzulegen und in die Stadt zu gehen". Zwischen 10.00 und 10.15 Uhr erschienen ca. 200 Demonstranten im Werk I des VEB EKM Rohrleitungsbau und forderten die Belegschaft zum Streik auf. Der größte Teil der dortigen Arbeiter schloß sich der Demonstration an. In der Maschinenbaufirma M. Martin wurde gegen 10.00 Uhr - angeregt durch das Erscheinen der demonstrierenden Arbeiter aus den Großbetrieben - die Arbeit niedergelegt, die Belegschaft schloß sich dem Demonstrationszug an. Gegen 10.15 Uhr wurden die Angestellten der Konsumgenossenschaft Bitterfeld ebenfalls durch eine größere Gruppe von Demonstranten zum Streik aufgefordert, ca. 40 % der Belegschaftangehörigen sollen sich der Demonstration angeschlossen haben, der Betrieb arbeitete aber weiter. Gegen 10.30 Uhr legte die Belegschaft - von dem Elektriker Max Schlittchen aufgerufen - im Werk II des VEB EKM Rohrleitungsbau die Arbeit nieder und formierte sich zu einem Demonstrationszug nach Bitterfeld. Zu diesem Zeitpunkt schloß sich auch die Belegschaft des Reichsbahnbetriebswerks Bitterfeld einem der Demonstrationszüge an. Auch in die lokale Redaktion und Druckerei der Freiheit, dem Organ der SED-Bezirksleitung Halle, versuchten die Demonstranten einzudringen, Fensterscheiben wurden zertrümmert, die Angestellten wurden zur Solidarität aufgefordert.

Zwischen 10.45 Uhr und 11.10 Uhr versammelten sich die Demonstranten auf dem Platz der Jugend. Über die Größe der sich hier während der gut einstündigen Kundgebung aufhaltenden Menschenmenge gibt es verschiedene Angaben, die allesamt nur auf Schätzungen von Augenzeugen beruhen. Unter Berücksichtigung der Beschäftigtenzahl der an der Kundgebung teilnehmenden Firmen und der Einwohnerzahl der Stadt Bitterfeld kann man - meiner Meinung nach - mit Sicherheit davon ausgehen, daß die durchschnittliche Teilnehmerzahl weit über 30.000 Personen gelegen haben muß. Eine Obergrenze ist allerdings weit schwieriger zu definieren. So können sich auf dem Platz der Jugend zeitweise auch durchaus weit über 50.000 Personen aufgehalten haben, was sich allerdings nicht mehr nachweisen ließ.

An einer improvisierten Tribüne, deren Lautsprecheranlage an den Stadtfunk angeschlossen werden konnte, versammelten sich mehrere Streikführer (oder die, die sich dafür hielten) aus den Betrieben des Bitterfelder Reviers sowie einige Neugierige. Der genaue Verlauf der Kundgebung ließ sich nicht mehr rekonstruieren, offenbar hatte als erster Redner Paul Othma gesprochen. Er forderte u. a. die Senkung der Normen und eine Preisreduzierung in den Geschäften der Handelsorganisation (HO) um 40 %. Anschließend hielt der Lehrer Wilhelm Fiebelkorn - welcher sich dem Demonstrationszug aus dem EKB vor seinem Arbeitsplatz, der Comenius-Schule, angeschlossen hatte - nicht ohne Pathos eine Rede. In diese Rede flocht er eine Reihe von Forderungen ein, die von nun an den Kern der Losungen der Streikenden im Kreis Bitterfeld bilden sollten:

Es sollen noch weitere kurze Redebeiträge gehalten worden sein, beispielsweise von Paul Gleim aus der Farbenfabrik Wolfen, welche alle in ihrem Inhalt die detaillierten Forderungen von Wilhelm Fiebelkorn, der ein Mitglied der NDPD war, unterstützten. Um diese Forderungen durchsetzen zu können, sollte aus den Vertretern der einzelnen Betriebe ein Kreisstreikkomitee gebildet werden. Nach kurzer Vorstellung der auf Zuruf erkorenen Kandidaten, wurden diese per Akklamation gewählt. Diesem zentralen Gremium gehörten 16 bis 18 Personen an, deren Mehrzahl Arbeiter waren. Zu ihrem Sprecher ließ sich Wilhelm Fiebelkorn küren.

Die Situation auf dem Platz der Jugend spitze sich während der Kundgebung zunehmend zu. Erboste Demonstranten brachten beispielsweise einen SED-Funktionär zur Tribüne, um ihn wegen einer Wahlfälschung aus dem Jahre 1950 zur Rede zu stellen. Der in Todesangst schwebende Mann wurde auf der Tribüne zu dem Tatbestand befragt, antwortete aber aus Angst oder Opportunismus nicht. Die Menge ließ ihn sowieso nicht zu Wort kommen, vielmehr steigerte sein Anblick die Lautstärke auf dem Platz ins Unerträgliche. Gegen 12.30 Uhr hatte das Kreisstreikkomitee die Kundgebung mit dem Absingen der dritten Strophe des Deutschlandliedes beenden wollen, als die Information bekannt wurde, daß die Polizei am Rande der Kundgebung sechs Demonstranten willkürlich verhaftet habe. Der Ruf nach Befreiung der politischen Häftlinge wurde laut.

Die Kundgebungsteilnehmer begannen gegen 12.30 Uhr auseinanderzulaufen, um entweder in ihre Betriebe zurückzukehren oder in den Dienststellen der Sicherheitsorgane im Ort - dem VPKA, dem MfS und der UHA am Kreisgericht - nach politischen Häftlingen zu suchen. Wilhelm Fiebelkorn, Paul Othma und der Elektromechaniker Horst Sowada aus dem EKB, alle drei zu Mitgliedern des Kreisstreikkomitees bestimmt, waren bemüht, sich an die Spitzen dieser verschiedenen Bewegungen zu setzen, um dadurch den Verlauf der zu erwartenden Aktionen gegen die Dienststellen der Staatsorgane beeinflussen zu können.

Während im Zentrum Bitterfelds die Kundgebung stattfand, formierte sich im Werk Freiheit erst gegen 11.00 Uhr ein Demonstrationszug der dort Streikenden, um nach Bitterfeld zu marschieren. Gegen 12.00 Uhr fand im Werk Holzweißig unter den verbliebenen Betriebsangehörigen eine Belegschaftsversammlung statt, auf der die Aufrechterhaltung der Produktion beschlossen wurde. Ungeachtet dessen begaben sich auch weiterhin einzelne Belegschaftsmitglieder nach Bitterfeld.

Das VPKA in der Röhrenstraße erhielt zwischen 7.00 und 8.00 Uhr die ersten Hinweise auf bevorstehende Streiks aus der Farben- und der Filmfabrik Wolfen. Daraufhin begab sich VP-Kommandeur Josef Nossek, der Leiter des VPKA, gemeinsam mit dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung und dem Chef der Bitterfelder MfS-Dienststelle umgehend in die Farbenfabrik Wolfen, um die Lage persönlich in Augenschein zu nehmen. VP-Oberkommissar Abendroth, der Stellvertretenden VPKA-Leiter, löste gegen 8.15 Uhr auf Weisung der BDVP Halle den Alarmzustand für das Amt aus. Gegen 8.30 Uhr kehrte Josef Nossek ins VPKA zurück, nachdem er die Farbenfabrik Wolfen und offenbar auch die Filmfabrik Wolfen sowie das EKB, allerdings ohne dort in direkten Kontakt zu den Chefs der VPA (B) getreten zu sein, aufgesucht hatte. Unter dem Eindruck der sich ihm dargebotenen Kundgebung ließ er zunächst wichtige Akten, Siegel und sämtliche Waffen sicher verwahren. Zwischen 9.00 und 11.00 Uhr erschienen vor dem Amt nacheinander zwei Gruppen von Streikenden, welche die Freilassung der politischen Gefangenen forderten. Die Angaben über die Stärke dieser Gruppen schwanken zwischen 30 und 150 Personen, die auf ein bis vier LKW vorgefahren sein sollen. Die erste Gruppe gab sich als SPD-Streikleitung aus; einer Delegation von drei bis vier Personen wurde von Josef Nossek die Inspektion der Haftzellen im VPKA gestattet, die Verwahrräume waren allerdings unbelegt. Über die zweite Delegation wurde nichts näheres berichtet, aber auch ihnen sollen die Zellen im Amt vorgeführt worden sein. Am Mittag - nach Beendigung der Kundgebung - wurde das VPKA dann durch eine größere Menschenmenge bestürmt. Den Demonstranten gelang es relativ problemlos, in den Hof des Objekts einzudringen, da die Polizei keinerlei Widerstand leistete. VP-Oberkommissar Abendroth zeigte sich zur Verhandlung mit einer Delegation der Demonstranten bereit. Vier Personen - darunter Horst Sowada und Paul Othma - begaben sich in das Gebäude, um nach den Verhafteten zu suchen. Während der Kontrolle des Tätigkeitsbuches des Amtes erhielten sie von einem Polizisten unteren Ranges den Hinweis, daß die Gesuchten bereits zur UHA in Bitterfeld abtransportiert worden waren. Daraufhin begaben sich offenbar einige Demonstranten sowie der Kreisstaatsanwalt Flucke, der VPKA-Leiter Nossek und einige Polizisten mit einem von Demonstranten geführten LKW zur UHA, um dort nach dem Verbleib der Festgenommenen zu forschen. Den vor dem Gebäude ausharrenden Massen gelang es nach und nach, die Eingangstür des Amtes aufzubrechen und in das Gebäude einzudringen; dessen Einrichtung wurde durch die Erstürmung und die folgende Durchsuchung erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Mißhandlungen von Polizisten soll es auch gegeben haben. Die Waffenkammer des Amtes konnte allerdings durch das besonnene Handeln von Horst Sowada vor der Ausplünderung bewahrt werden. Das VPKA blieb bis zum Eintreffen sowjetischer Truppen gegen 15.00 Uhr von Demonstranten besetzt.

Am späten Vormittag erreichten die Vollzugsangestellten der UHA am Bitterfelder Kreisgericht in der Leninstraße, die gerade eine ideologische Schulung durchführten, die Informationen über beginnende Unruhen im Stadt- und Kreisgebiet. Der Leiter der Anstalt ließ, als sich am späten Vormittag die ersten Demonstranten der Anstalt näherten, die vorhandenen vier Pistolen unter den neun Vollzugsbediensteten verteilen. Für die Demonstranten, welche die Anstalt umlagerten, war die in der UHA eintreffende Gruppe von Streikenden und Funktionären aus dem VPKA offenbar das Signal zum Sturm auf das Gebäude. Das Tor zum Gefängnishof wurde gewaltsam aufgebrochen, Türen und Kellerfenster wurden zerschlagen, man drang in das Gebäude ein. Das Vollzugspersonal drohte den Eindringenden mit Waffenanwendung, schoß aber nicht. Der Anstaltsleiter hatte offenbar in dieser Situation die ausgegebenen Pistolen - wahrscheinlich auf Anweisung von Nossek - wieder in Verwahrung genommen. Der Kreisstaatsanwalt, der Leiter der VPKA sowie einige Demonstranten, zu denen auch Wilhelm Fiebelkorn und Willi Radicke aus der Farbenfabrik Wolfen gehörten, bildeten eine Kommission, welche die Unterlagen der Häftlinge überprüfte. Sowohl über die Anzahl der tatsächlichen Insassen der UHA (51; 83; 86) als auch über die Zahl der schlußendlich freigekommenen Häftlinge gibt es verschiedene Angaben. In einem Inspektionsbericht der HVDVP wurde von 23 - mit Zustimmung des Staatsanwalts und des VPKA-Leiters - entlassenen Personen berichtet. Wilhelm Fiebelkorn gab wiederum an, daß die Kommission zur Aktenüberprüfung für 80 Häftlinge, welche aus politischen Gründen inhaftiert worden waren, die Entlassungspapiere ausgefertigt hatte. Anzunehmen ist, daß quasi sämtliche Insassen der UHA die Gelegenheit nutzten, ihre Freiheit - mit oder ohne offizieller Bestätigung - wiederzuerlangen. Inhaftierte Streikteilnehmer fand man in der UHA nicht vor.

Zum Schutz der UHA wurden gegen 12.45 Uhr zwei Züge mit unbewaffneten Angehörigen der Wacheinheit Wolfen der BDVP Halle auf zwei LKW dorthin geschickt. Diese LKW wurden auf ihrem Weg zur UHA in der Leninstraße von Demonstranten angehalten und - teilweise mitsamt der Besatzung - umgekippt, die Polizisten wurden jedoch kaum behelligt.

Die Dienststelle des MfS, die sich ebenfalls in der Leninstraße befand, wurde um die Mittagszeit durch eine große Zahl von Demonstranten belagert, gestürmt und erheblich verwüstet. Horst Sowada will hier die Erstürmung des Gebäudes angeführt und die sich darin noch befindenden MfS-Angehörigen vor der ihnen drohenden Lynchung dadurch bewahrt haben, daß er ihnen eine unauffällige Flucht ermöglichte. Insbesondere für die zu dieser Zeit unbesetzten Hafträume des Gebäudes interessierten sich viele Demonstranten, so fand man hier mehrere Zellen vor, die mit unterschiedlichen Instrumenten zur physischen Folter ausgestattet gewesen sein sollen. Außerdem wurde vorgefundenes Aktenmaterial zerstört oder entwendet.

Weiterhin wurden dem VPKA gegen 13.00 Uhr Übergriffe auf die SED-Kreisleitung, die FDJ-Kreisleitung, den Rat des Kreises und das Finanzamt gemeldet, außerdem wurde die Einrichtung des Gebäudes der Gesellschaft für Sport und Technik und verschiedener Schulen der Stadt demoliert. Das Haftarbeitslager konnte dagegen nicht besetzt werden, da hier durch die Wachmannschaften "eine gute organisatorische Abwehr geschaffen" worden war. Die Häftlinge, die im EKB beschäftigt waren, sollen bei Ausbruch der Unruhen im Werk ohne Widerstand mit ihren Bewachern ins HAL zurückgekehrt sein. Nach Anforderung bei der BDVP Halle erhielt das Lager außerdem Verstärkung durch einen Zug der Wacheinheit Wolfen.

Die Mitglieder des Kreisstreikkomitees hatten nach Beendigung der Kundgebung auf dem Platz der Jugend das Rathaus von Bitterfeld aufgesucht und führten dort ab ca. 13.30 Uhr eine öffentliche Sitzung durch. Zunächst wurde Wilhelm Fiebelkorn noch einmal für die Funktion des Sprechers, Paul Othma zum ersten und Horst Sowada zum zweiten Vorsitzenden des Kreisstreikkomitees gewählt. Daraufhin bestimmte man den ehemaligen Stadtschulrat Selle zum provisorischen Bürgermeister und den im Finanzamt beschäftigten Lieber zum provisorischen Landrat. Neben kurzen Berichten von Wilhelm Fiebelkorn und Horst Sowada über ihre Tätigkeit im Zeitraum zwischen der Kundgebung und der Sitzung, wurde hier vor allem die Frage der Kommunikation mit den anderen mitteldeutschen Industriestandorten und Berlin diskutiert. Der Umfang der Geschehnisse in der mitteldeutschen Industrieregion konnte von den Teilnehmern der Sitzung in etwa erahnt werden, da sukzessive Nachrichten über Aktionen und Streiks in Berlin, Merseburg (Leuna/Buna), Halle, Leipzig und Magdeburg eingetroffen waren. Das Verfahren der Verbindungsaufnahme mit den anderen Aktionszentren wurde offenbar kontrovers diskutiert. Horst Sowada regte die Entsendung einer dreiköpfigen Delegation zum Berliner RIAS an, welche dort die Ausrufung des Generalstreiks für die gesamte DDR durchsetzen sollte. Wilhelm Fiebelkorn hingegen sah die Entsendung von motorisierten Delegationen in die mitteldeutschen Städte Halle, Leipzig, Magdeburg, Leuna und Dessau für sinnvoller an, um mit den dort eventuell bestehenden Streikleitungen Kontakt aufzunehmen. Eine klare Entscheidung wurde allerdings nicht getroffen, beide Ideen wurden von ihren Initiatoren zu verwirklichen versucht. Nach Angaben Wilhelm Fiebelkorns beschloß das Kreisstreikkomitee noch einige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, wie ein Ausschankverbot für Alkohol, welche über den Stadtfunk der Bevölkerung bekanntgegeben wurden, doch war an die Durchsetzung dieser Verordnungen aus Mangel an Vollzugsgewalt nicht zu denken. Gegen 14.00 Uhr erhielten Paul Othma und Horst Sowada die Information, daß sich Wolfgang Stille, der bisherige Bürgermeister, welcher zum Beginn der Sitzung des Kreisstreikkomitees noch im Saal anwesend war, telefonisch mit einer sowjetischen Dienststelle in Verbindung gesetzt hatte. Den beiden Streikaktivisten wurde die Bedeutung dieses Telefonates sofort deutlich: Der Bürgermeister hatte offenbar die sowjetische Kommandantur um Hilfe gebeten.

In kurzen Abständen erhielt das Kreisstreikkomitee nun Informationen von der Verhängung des Ausnahmezustandes über Berlin und über größere Truppenbewegungen der Sowjetarmee in Richtung Leipzig. In dieser Situation verfaßten die Mitglieder des Kreisstreikkomitees Werner David, Wilhelm Geye und Gerhard Müller, unter maßgeblicher Einflußnahme von Wilhelm Fiebelkorn, den Text für zwei Telegramme, die den Standpunkt des Bitterfelder Kreisstreikkomitees gegenüber der DDR-Regierung klären und die sowjetische Besatzungsmacht in ihrem Vorgehen gegenüber den Streikenden in der gesamten DDR beschwichtigen sollten, so daß die erfolgreiche Weiterführung des Aufstandes möglich gewesen wäre. Der Text des Telegramms an die DDR-Regierung enthielt im Kern jene Forderungen, die bereits auf der Kundgebung am Vormittag formuliert worden waren:

Gegenüber diesem Forderungskatalog hatte die Depesche an den Hohen Kommissar der UdSSR Wladimir Semjonow eher den Charakter einer Bittstellung:

Die Telegramme wurden von Beyer, Werner Göricke und Horst Sowada, die alle mit einem beschlagnahmten BMW des VPKA zum Postamt fuhren, aufgegeben. Nach Überwindung einiger Schwierigkeiten im Postamt gelang es Horst Sowada, die Absendung der Telegramme durchzusetzen; er will für sie auch Empfangsbestätigungen erhalten haben. Nachgewiesen konnten vom Verfasser der Abgang des Telegramms an die DDR-Regierung um 14.50 Uhr, nach dem Verbleib des Telegramms an den Hohen Kommissar der UdSSR muß dagegen noch in zuständigen russischen Archiven recherchiert werden.

Telegramm des Kreisstreikkomitees (Vorderseite)

Telegramm des Kreisstreikkomitees (Rückseite)

Abbildung 1: Telegramm des Kreisstreikkomitees an die Regierung der DDR (Quelle: BStU, Ast. Halle)

Zwischen 15.00 und 16.00 Uhr trafen mehrere Delegationen von streikenden Betrieben im Sitzungssaal des Rathauses ein, um sich über die Lage zu informieren. Vertreter des Kreisstreikkomitees hatten über den Stadtfunk die Bevölkerung zur Arbeitsniederlegung bis zum Wochenende aufgerufen, nun reichten sie an die Betriebsvertreter eine Liste weiter, auf der man elf Maßnahmen zur Sicherung der Fortführung des Streiks vorschlug.

Elf-Punkte-Plan des Kreisstreikkomitees

Abbildung 2: Elf-Punkte-Plan des Kreisstreikkomitees (Quelle: BStU, Ast. Halle)

Das Kreisstreikkomitee begann sich aufzulösen, als nach 16.00 Uhr die Nachricht eintraf, daß aus westlicher Richtung sowjetische Truppen auf Bitterfeld zurollen. Horst Sowada unternahm den Versuch, per Motorrad nach West-Berlin zu gelangen, der allerdings vor der durch sowjetische Truppen und deutsche Polizisten besetzten Elbebrücke bei Wittenberg vorerst scheiterte. Andere Komiteemitglieder erhielten den Auftrag, die Streikenden in den Betrieben des Bitterfelder Reviers über die gegenwärtige Lage zu informieren und gegebenenfalls von dort aus den Widerstand gegen die DDR-Regierung weiter fortzusetzen. So fuhr Paul Othma mit einer vierköpfigen Delegation in einem beschlagnahmten BMW des VPKA offenbar nacheinander in das EKB, in die Farbenfabrik und in die Filmfabrik Wolfen, um dort entweder den erarbeiteten Katalog der elf Maßnahmen selbst über den Betriebsfunk bekannt zu geben oder ihn zumindest an die betrieblichen Streikleitungen weiterzureichen. Die verbliebenen Mitglieder des Kreisstreikkomitees flüchteten gegen 17.00 Uhr vor den anrückenden Sowjetsoldaten aus dem Rathaus. Zu diesem Zeitpunkt wurde durch Angehörige der Sowjetarmee bereits gezielt nach Streikaktivisten gesucht, beispielsweise befragte ein sowjetischer Offizier die flüchtenden Komiteemitglieder im Treppenhaus des Rathauses nach Wilhelm Fiebelkorn.

Die Lage in den Bitterfelder und Wolfener Großbetrieben beruhigte sich im Laufe des Vormittags wieder, nachdem die meisten Belegschaftsangehörigen die Werke verlassen hatten und nach Bitterfeld marschiert waren. Diese kehrten hauptsächlich erst am Nachmittag in ihre Betriebe zurück, um sich daraufhin zum Teil auf den Heimweg zu begeben.

In der Farbenfabrik Wolfen waren offenbar nicht alle Werktätige in den Streik getreten, andere hatten nach ihrer Rückkehr in den Betrieb die Arbeit wieder aufgenommen. Der Betriebsdirektor Dr. Schulz forderte während des Vormittags die noch anwesenden Beschäftigten auf, aus den einzelnen Abteilungen Delegationen zur Werkleitung zu entsenden, um dort über die Klärung von Probleme zu verhandeln. Ergebnisse dieser Besprechungen konnten nicht festgestellt werden.

Um 14.00 Uhr wurde vom Betriebsschutz wieder ein verstärkter Strom zurückkehrender Arbeiter registriert. Unter den Beschäftigten der Werkstatt IV wurde über die Bildung einer betrieblichen Streikleitung diskutiert, die man als eine Notwendigkeit für die erfolgreiche Fortsetzung des Arbeitskampfes erachtete. Die Kollegen Hans Bergander, Herbert Feist und Paul Gleim begannen gegen 15.00 Uhr eine für 16.00 Uhr angesetzte Belegschaftsversammlung zu organisieren. Zunächst versuchte Hans Bergander die anwesenden Belegschaftsmitglieder über diesen Termin zu informieren. Da eine Durchsage über den Betriebsfunk offenbar am Widerstand des dortigen Mitarbeiters scheiterte, fuhr er per Fahrrad durch das Werk. Gegen 15.30 Uhr wurde der Betriebsdirektor über die beabsichtigte Versammlung informiert, die er auch genehmigt haben soll. Gegen 16.00 Uhr begann die Streikversammlung mit ca. 600 Belegschaftsmitgliedern im Vortragssaal des Werkes. Zunächst wurde eine ca. 18 bis 20 Personen starke Streikleitung gebildet, zu deren Vorsitzenden sich Paul Gleim erklären ließ. Im weiteren Verlauf der Versammlung verabschiedeten die Belegschaftsmitglieder einen vierzehn Punkte umfassenden Forderungskatalog, dessen Inhalt weitgehend mit den Bitterfelder Forderungen vom Vormittag übereingestimmt haben dürfte.

Bereits gegen 15.00 Uhr sollen Vertreter einer Streikleitung bei Kommissar Müller, dem Leiter des VPA (B), erschienen sein, um ihn zur Solidarität mit den Streikenden zu verpflichten. Der sich auf Grund fehlender Anweisungen von vorgesetzten Dienststellen abwartend verhaltende Kommissar Müller folgte nach 16.00 Uhr einer Aufforderung der nunmehr gebildeten Streikleitung, sich vor der Belegschaftsversammlung im Vortragssaal zu erklären. Hier führte er umständlich aus, "dass für die Volkspolizei nur die Aufgabe in der [Gewährleistung der] Sicherheit des Werkes und des Ablaufes der Produktion ... steht". Die Aufforderung zur Abgabe der Waffen bzw. deren Schlösser lehnte er ab und versicherte, "dass die Volkspolizei nicht auf unsere Arbeiter schiesst".

Nach ca. einer Stunde wurde die Versammlung beendet; die Streikleitung führte ihre Sitzung im Gebäude der BPO fort. Die dort ausharrenden acht Funktionäre wurden gegen 17.00 Uhr dem VPA (B) zur Verwahrung übergeben. Die Polizisten nutzten die Gelegenheit, um ihre Genossen vor weiteren Übergriffen zu schützen und unauffällig aus dem Werk zu schleusen.

Über die Tätigkeit der Streikleitung nach 17.00 Uhr sind nur wenige Informationen überliefert. Zunächst wurde die Bewachung der Betriebstore durch insgesamt 20 Streikposten organisiert. Die weiteren Bemühungen der Streikleitung dürften sich sowohl um die Vorbereitung des weiteren Arbeitskampfes, als auch um die Sicherstellung der Funktion der wichtigen Anlagen des Betriebes bewegt haben. Die Anweisung hierzu soll der Betriebsdirektor, der offenbar zwischen 16.00 und 17.00 Uhr im Bitterfelder Rathaus war, vom Kreisstreikkomitee überbracht haben; später kam ein Vertreter des Kreisstreikkomitees - offenbar Paul Othma - selbst in den Betrieb, um den vom Komitee ausgearbeiteten Maßnahmenkatalog zu überbringen. Paul Othma kehrte zu einem späteren Zeitpunkt mit Wilhelm Fiebelkorn, dem er unterwegs begegnet war, noch einmal in die Farbenfabrik zurück. Hier führten sie gegen 20.00 Uhr in der Kantine eine Besprechung mit Mitgliedern der betrieblichen Streikleitung durch. Die noch anwesenden Streikleitungsmitglieder wurden beim Eintreffen der Sowjetarmee festgenommen.

Gegen Abend wurden vom Betriebsschutz offenbar alle verfügbaren Kräfte im Werk konzentriert. Dies waren 72 Polizisten, von denen allerdings nur 32 über nur z. T. funktionsuntüchtige Waffen verfügten. Gegen 17.00 Uhr hatten man im VPA (B) die Mitteilung erhalten, "dass Verstärkung unterwegs sei". Um 20.00 Uhr rief Paul Gleim den Leiter des VPA (B) zu sich, um ihn ob der Aktivitäten des Betriebsschutzes zu befragen; Kommissar Müller begründete ihm die angebliche Anwesenheit von 30 Polizisten mit der Notwendigkeit des ausreichenden Schutzes der Produktionsanlagen. Parallel dazu bereitete man im VPA (B) die Ausgabe aller verfügbaren Waffen vor, um gegebenenfalls das Partei- und Gewerkschaftsgebäude, in welchem die Streikleitung tagte, umstellen und die anwesenden Personen verhaften zu können. Außerdem erhielten die Bewacher der Betriebstore die Anweisung, niemanden mehr aus dem Werk heraus zu lassen. Um 21.47 Uhr erschienen vor der Pforte II mehrere LKW mit sowjetischen Soldaten, die bis 2.30 Uhr des 18. Juni alle strategisch wichtigen Punkte des Werkes besetzt hatten. Vom Betriebsschutz konnten 23 Streikaktivisten festgenommen werden, von den neun in Haft genommen und vierzehn nach ihrer Überprüfung durch einen Oberst der Sowjetarmee wieder laufen gelassen wurden. Eine erste Vernehmung dieser Personen fand noch im Werk statt, sie wurde von besagtem Oberst durchgeführt, anwesend waren weiterhin Parteifunktionäre und Mitarbeiter der Polizei und des MfS. Anscheinend konnten mehrere Streikaktivisten flüchten, da ein Fahrzeug mit zwei Polizisten zu deren Suche eingesetzt wurde.

Im Hörsaal der Filmfabrik Wolfen wurde zwischen der Werkleitung und dem Streikkomitee zwischen 8.55 und 11.45 Uhr über neun Forderungen verhandelt, die im Kern bereits auf der morgendlichen Kundgebung formuliert worden waren: "Einschränkung der TAN, einige Funktionäre der Partei und BGL sollten abgesetzt werden, Neuwahl der BGL und AGL, Besetzung des Werkfunks durch die illegale Gruppe und keine Repressalien gegen die Leitung der illegalen Gruppe". Nachdem über die Realisierung dieser Forderungen offenbar Einigung erzielt wurde, verließ das Streikkomitee das Werk und fuhr nach Bitterfeld. In die gegen 8.30 Uhr von den Streikenden besetzten Zentralen von Werkfunk und Telefonvermittlung wurde gegen 9.30 Uhr je ein Polizist gesandt, um die Unversehrtheit der dortigen Kommunikationsanlagen zu sichern. Offenbar wurden die dort eingesetzten Polizisten von den Streikenden geduldet, denn beim Eintreffen der Sowjetarmee konnten diese die in den Kommunikationszentralen anwesenden Streikaktivisten sofort festnehmen.

Bekanntmachung der Streikleitung der Filmfabrik Wolfen

Abbildung 3: Bekanntmachung der Streikleitung der Filmfabrik Wolfen (Quelle: Landesarchiv Merseburg)

Bei der Besetzung der Werkfunkanlage spielte zunächst Arthur Kobes eine wichtige Rolle, da er als erster Streikaktivist die Belegschaft im gesamten Werk über die Vorgänge vor dem Verwaltungsgebäude 041 informierte. Gegen 10.00 Uhr wurde er von Hans Wollenzien abgelöst. Dieser besetzte beide Kommunikations-zentralen mit je fünf bis sechs Streikposten, er verlas mehrere Mitteilungen an die Belegschaft und gab Forderungskataloge der Streikleitung bekannt; weiterhin erhielt er von Gerhard Müller die Anweisung, den RIAS auf die Werkfunkanlage zu schalten. Diese Anweisung führte er offenbar aber nicht durch.

Gegen 10.30 Uhr erhielt das VPA (B) der Filmfabrik von der Anweisung des Leiters der Dienststelle des MfS in Bitterfeld Kenntnis, sämtliche Waffen sicher zu verwahren. Dieses wurde umgehend realisiert. Offenbar erst gegen 14.00 Uhr erfuhr die Streikleitung von der Existenz eines Kreisstreikkomitees. Daraufhin fuhr Werner David mit dem personellen Kern der Streikleitung per PKW nach Bitterfeld, um als Vertreter der Filmfabrik an der Tagung im Rathaus teilzunehmen. Eine organisatorische oder inhaltliche Arbeit der Streikleitung hatte nach der morgendlichen Verhandlung mit der Betriebsleitung offenbar nicht mehr stattgefunden. Nach Beendigung der Sitzung des Kreisstreikkomitees kehrte die betriebliche Streikleitung wieder zur Filmfabrik zurück, wo der Inhalt des elf Punkte umfassenden Maßnahmenplans der Werksleitung mitgeteilt worden sein soll. Die Streikaktivisten David und Schöltzke verließen gegen 17.30 Uhr das Werk, nachdem sie sich mit zehn Portionen Kaltverpflegung versorgt hatten, um - wie sie ihrem Kollegen Erich Kluge mitteilten - nach Berlin zu fahren. Etwa zur selben Zeit begann ein Kommando der Sowjetarmee das Werk zu besetzten. Der Betriebsschutz hatte bereits um 16.45 Uhr durch bewaffnete Kräfte begonnen, bestimmt Objekte - wie das Gebäudes der BPO - zu sichern. Gegen 17.45 Uhr gelang die Entsetzung der Telefon- und Werkfunkzentrale durch die Sowjetsoldaten, dabei wurden mehrere Streikaktivisten festgenommen. Bis gegen 18.00 Uhr war die Sicherung des Betriebes durch das Kommando der Sowjetarmee offenbar weitgehend abgeschlossen, so daß bereits gegen 18.30 Uhr über den Betriebsfunk mit der "Aufforderung zur freiwilligen Wiederaufnahme der Arbeit sowie [der] Aufklärung der Belegschaft über den faschistischen Putsch" begonnen werden konnte. Um 21.00 Uhr begann ein Agitationseinsatz von 60 Mitgliedern der BPO unter den lediglich in schwacher Anzahl eintreffenden Nachtschichtarbeitern. Insgesamt 600 Kollegen sollen der Nachtschicht ferngeblieben sein, allerdings konnte die Sollstärke dieser Schicht nicht ermittelt werden. Die Arbeit wichtiger Abteilungen des Betriebes - wie Kraftwerk, Gießerei oder Wasseranlage - konnte offenbar während des Tages und in der Nacht zum 18. Juni nahezu vollständig aufrecht erhalten werden.

Gegen 12.00 Uhr beruhigte sich die Lage im EKB wieder, im Werk waren lediglich ca. 600 Kollegen verblieben. Hier wurde gegen 12.30 Uhr ein "Kampfstab" aus Funktionären der BPO, dem Kulturdirektor und Mitarbeitern des MfS gebildet, welcher "Maßnahmen zur Verteidigung des Werkes" beschloß. Bereits gegen 10.00 Uhr soll der 1. Sekretär der BPO Schwarz in Eigenverantwortung die Bewaffnung der Betriebsschutzangehörigen veranlaßt haben. Zwischen 13.00 und 14.00 Uhr wurde das Werk vom Betriebsschutz vorläufig abgeriegelt, zurückkehrende Demonstranten sperrte man aus. Die Besetzung der Telefonzentrale und des Werkfunks durch bewährte Genossen soll veranlaßt worden sein, um den im Werk befindlichen Streikenden die gegenseitige Kommunikation zu erschweren. Trotzdem drangen am Nachmittag mehrere Streikaktivisten gewaltsam in die zu diesem Zeitpunkt unbesetzte Werkfunkzentrale ein; gegen 16.00 Uhr wurde über die Werkfunkanlage - offenbar von Paul Othma selbst - der elf Punkte umfassende Maßnahmenkatalog des Kreisstreikkomitees verlesen. Eine gesamtbetriebliche Streikleitung hatte im EKB offenbar nicht existiert. Jedoch führten die streikenden Belegschaftsmitglieder in verschiedenen Abteilungen am Nachmittag des 17. Juni Versammlungen durch; teilweise wurden auf dieser Ebene auch Streikleitungen gebildet, z. B. in der Kraftwerkswerkstatt. Die Gründe für das Unvermögen der Belegschaft, eine gesamtbetriebliche Führung des Arbeitskampfes zu organisieren, mögen in der flächigen Ausdehnung und Gliederung des Werks in einen nördlichen und einen südlichen Teil zu finden sein; es muß aber auch konstatiert werden, daß der Belegschaft durch das Engagement der wichtigsten Wortführer der Demonstration vom Vormittag im Kreisstreikkomitee die Integrationsfiguren fehlten, die zweifellos für die Interessenvertretung einer so umfangreichen Belegschaft notwendig gewesen wären. An der daraus resultierenden Parzellierung der Streikbewegung im EKB konnte auch das kurze Auftreten von Paul Othma nichts ändern.

Nach 21.00 Uhr wurden auch in EKB Agitationsgruppen der BPO dazu eingesetzt, die zu ca. 50 % eintreffenden Nachtschichtarbeiter zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. Um 22.00 Uhr wurde das EKB von Truppen der sowjetischen Armee besetzt. Im EKB wurden neun Streikaktivisten festgenommen; diese wurden am 18. Juni der sowjetischen Kreiskommandantur zugeführt.

Im Werk II des VEB EKM Rohrleitungsbau Bitterfeld wurde gegen 15.00 Uhr eine Versammlung durchgeführt, auf welcher Max Schlittchen - der sich in diesem Betrieb offenbar als Streikführer profiliert hatte - verschiedene Funktionäre für abgesetzt erklärte. Gegen 15.00 Uhr wurde in der Firma M. Martin unter den anwesenden Belegschaftsmitgliedern eine Versammlung durchgeführt, da die BGL zurückgetreten war. Das Ergebnis dieser Versammlung war die Wahl einer dreiköpfigen Delegation, welche Verbindung mit dem Kreisstreikkomitee aufnehmen sollte, um Informationen über die Lage in Bitterfeld und Anweisungen für das Vorgehen in den einzelnen Betrieben zu erhalten. Auch im Bahnbetriebswerk der Deutschen Reichsbahn in Bitterfeld fand am Nachmittag, nachdem die Belegschaft wieder in den Betrieb zurückgekehrt war, eine Versammlung statt. Die während der Kundgebung auf dem Platz der Jugend formulierten Forderungen wurden auch von der Belegschaft dieses Betriebes unterstützt; des weiteren wurde eine sechs Personen umfassende Streikleitung gebildet, deren Mitglieder für die Realisierung jener Forderungen im Betrieb verantwortlich sein sollten. Die Streikleitung besetzte zunächst die Räume der BGL, der BPO und des Betriebsfunks, wobei die Partei- und Gewerkschaftsleitungen für aufgelöst erklärt wurden. Die Funktionäre fügten sich offenbar widerstandslos den Anweisungen der Streikaktivisten. In die Werke Freiheit und Holzweißig kehrten gegen 13.30 Uhr verstärkt Arbeiter zurück, wo sie Bilder, Sichtwerbungselemente und andere Propagandamaterialien beseitigten. Im Werk Holzweißig wurden die Angehörigen des Betriebsschutzreviers der VP von Streikenden bedrängt, so daß sie ihre Schulterstücke ablegten, um die Belegschaftsmitglieder zu beruhigen. Hier war gegen 12.30 Uhr die Anweisung aus dem VPKA eingetroffen, die vorhandenen Waffen sicher zu verwahren. Gegen 14.30 Uhr sollen im Kohleabraumbetrieb des Werkes Holzweißig beschäftigte Arbeiter von mit Knüppeln bewaffneten Demonstranten gezwungen worden sein, ihre Arbeit niederzulegen.

Oberst Makowejew, der sowjetische Militärkommandant von Bitterfeld, informierte sich offenbar seit dem Mittag persönlich über die Situation in der Stadt. Horst Sowada will ihm zwischen 13.00 und 14.00 Uhr vor dem Gebäude des MfS in der Leninstraße begegnet sein; das VPKA meldete um 14.30 Uhr das Eintreffen des sowjetischen Militärkommandanten vor der UHA in der Leninstraße. Unterstützt von einigen Sowjetsoldaten suchte er dieses und andere öffentliche "Gebäude auf und reinigte sie von Provokateuren", offenbar ohne diese gleichzeitig zu besetzen. Gegen 15.00 Uhr trafen vier Panzer und vier vollbesetzte Mannschaftswagen der Sowjetarmee in Bitterfeld ein, welche die strategischen Punkte in der Stadt sicherten. Der Ausnahmezustand über den Kreis Bitterfeld wurde erst um 19.30 Uhr verhängt. Bis zu diesem Zeitpunkt hielten sich noch größere Ansammlungen von Einwohnern in den Straßen Bitterfelds auf, die dann von Streifen sowjetischer Soldaten und deutscher Polizisten aufgelöst wurden. Seit dem Erscheinen der Sowjetarmee herrschte aber offenbar allgemeine Ruhe in Bitterfeld.

Die Filmfabrik Wolfen war der erste Industriebetrieb, der im Kreis Bitterfeld von sowjetischen Truppen besetzt wurde. Die damalige SAG wurde bereits gegen 17.30 Uhr, d. h. zwei Stunden vor der Verhängung des Ausnahmezustandes von den Sowjetsoldaten eingenommen. Hierbei spielte wahrscheinlich das Bemühen um die Sicherung des sowjetischen Eigentums eine Rolle. Allerdings stellt sich in diesem Fall die Frage, warum die Werksbesetzung nicht bereits beim Eintreffen der Truppem im Kreisgebiet erfolgte?

Das Werk Holzweißig wurde gegen 19.00 Uhr - also auch vor der Verhängung des Ausnahmezustandes - besetzt. Dieser zu diesem Zeitpunkt offenbar arbeitende Betrieb war wichtig für die Aufrechterhaltung der regionalen Energieversorgung durch das Kraftwerk Karl Liebknecht, dem einzigen Kraftwerk im Kreis, das hauptsächlich für das öffentliche Netz produzierte. Daß die anderen Großbetriebe - Farbenfabrik Wolfen und EKB - erst zwischen 21.45 und 22.00 Uhr von sowjetischen Truppen besetzt wurden, läßt die Vermutung aufkommen, daß die Sowjetsoldaten bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in Bitterfeld auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen waren bzw. daß die Zahl der zur Verfügung stehenden sowjetischen Soldaten für eine unverzügliche Besetzung aller Industriebetriebe nicht ausreichte. Die Präsenz der Sowjetarmee beschränkte sich außerdem auf das Stadtgebiet von Bitterfeld und auf die Wolfener Großbetriebe. Ein Einsatz der KVP am 17. Juni im Kreisgebiet war in den durch den Verfasser eingesehenen Unterlagen nicht nachzuweisen.

Beginn

 

3. 1. 2. Die Ereignisse im Kreisgebiet Bitterfeld

Die Beschäftigten des Werks III des VEB EKM Rohrleitungsbau Bitterfeld in Muldenstein traten gegen 13.00 Uhr aus Solidarität mit den anderen Betriebsteilen in den Streik. Im Kraftwerk der Deutschen Reichsbahn in Muldenstein entzündete sich der Konflikt am Morgen an der unüblichen Bewaffnung des Postens des Betriebsschutzes. Der Protest einiger Kollegen bei der BGL vermochte an diesem Zustand nichts zu ändern. Gegen Mittag trafen die ersten Nachrichten über die Ereignisse in Bitterfeld im Kraftwerk ein. Ab 13.00 Uhr wurde dann eine Belegschaftsversammlung durchgeführt, "bei welcher die Betriebsleitung sowie Partei und Gewerkschaft sich für unsere Sorgen und Beschwerden interessierte[n]", wie ein dort beschäftigter Montagehelfer in einem Verhör des MfS angab. Im Anschluß an diese Versammlung wurde von den Belegschaftsmitgliedern spontan eine Demonstration durch das benachbarte Friedersdorf durchgeführt.

In der Gemeinde Muldenstein kam es am Abend zu Auseinandersetzungen vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung, in der darauffolgenden Nacht wurden an dem Gebäude die Fensterscheiben zerstört. Gegen 22.15 Uhr registrierte vom VPKA eine Demonstration vor dem zentralen HO-Lager in Muldenstein, gleichzeitig wurde mitgeteilt: "Durch die Freunde sind dementsprechende Schritte unternommen worden, diese Demonstration zu unterbinden."

Im Werk III des VEB Preß- und Stanzwerk in Raguhn trat die Belegschaft gegen 10.00 Uhr - aufgefordert durch einen Abgesandten der Filmfabrik Wolfen - in den Streik. Zwischen 13.00 und 14.00 Uhr formierte sich hier ein Demonstrationszug, der sich zum Marktplatz der Gemeinde bewegte. Hier fand eine Kundgebung statt, auf der eine Reihe wirtschaftlicher und politischer Forderungen aufgestellt wurde; diese glichen - soweit sie nicht spezifische Probleme des Werkes betrafen - weitgehend den in Bitterfeld formulierten Forderungen. In Raguhn wurde außerdem der Bürgermeister für abgesetzt erklärt; als vorläufiger Amtsverweser setzte sich der in der Gemeindeverwaltung als Stadtrat tätige Kurt Naumann (CDU) ein, er wurde am 18. Juni verhaftet.

In den Gemeinden Sandersdorf und Greppin zerstörte zwischen 14.00 und 16.00 Uhr eine per LKW aus Bitterfeld eintreffende Gruppe von ca. 20 Personen die Inneneinrichtungen der Gemeindeverwaltungen. In Sandersdorf richtete diese Gruppe außerdem im Posten der Polizei und in der August-Bebel-Schule erhebliche Verwüstungen an. Der in Sandersdorf entstandene Schaden wurde auf ca. 3.000 DM geschätzt. Aus Zscherndorf hatte man offenbar zwei Funktionäre der Gemeindeverwaltung gewaltsam nach Bitterfeld gebracht.

In der Papierfabrik in Jeßnitz trat ein Kollege wegen eines Lohndefizits von 60,- DM in den Ausstand, er wurde von fünf Kollegen unterstützt. Bei der dortigen Filiale der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft (BHG) der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) erschien gegen 8.30 Uhr ein werktätiger Bauer und verlangte die Auslieferung von Futtermitteln, welche von ihm mehrere Tage zuvor beantragt wurden. Als ihm dies aus formalen Gründen verweigert wurde, drohte er an, daß am Vormittag alle Bauern kämen, um ihnen zustehende Dünge- und Futtermittel einzufordern. Gegen 10.30 Uhr kamen 20 bis 25 Bauern zu der BHG und diskutierten mit den Angestellten über ihre Dünge- und Futtermittelforderungen, diese Diskussion verlief allerdings ergebnislos. Daraufhin kam der erstbenannte Bauer gegen 12.30 Uhr mit einem feststehenden Messer wieder zur BHG und bedrohte die Angestellten. Daraufhin erhielten die Bauern 100 Zentner Futtermittel als Vorschuß auf die 1953er Herbstkontingente ausgehändigt.

In Zörbig kam es zu einer Demonstration von Arbeitern der Bauunion, außerdem wurden im Ort Sichtwerbungselemente zerstört. In der Gemeinde Schrenz kam es zwischen 18.00 und 20.00 Uhr zu Protesten gegen den Bürgermeister vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung. Im Jugendheim der Gemeinde Zscherndorf demolierten zwischen 20.00 und 22.00 Uhr Jugendliche die Einrichtung.

Während der Nachtstunden verkehrten sowjetische Militärstreifen durch einzelne Orte des Kreises, um die Einhaltung der Ausgangssperre zu kontrollieren.

Kapitel 3.2.

Kapitel 3.2.

Inhalt

Inhalt

© Olaf Freier (1995)