4. Unmittelbare Rreaktionen auf den Aufstand

4. 1. Strafrechtliche und politische Verfolgung von Streikaktivisten

In den Bitterfelder und Wolfener Großbetrieben waren bereits während der Besetzung durch die Sowjetarmee am Abend des 17. Juni 1953 die anwesenden Streikaktivisten festgenommen und durch sowjetische Offiziere in Anwesenheit deutscher Funktionäre vernommen worden. Diese Festnahmen hatten offenbar die Funktionäre der jeweiligen BPO und VPA (B) im Laufe des Tages durch die Anfertigung von Listen mit Namen der Streikaktivisten vorbereitet. Bis zum Eintreffen der Sowjetarmee verhielten sich die Angehörigen der Betriebsschutzämter zurückhaltend gegenüber den Streikenden, teilweise signalisierten sie sogar Kooperationsbereitschaft, um Aktivitäten zur vollständigen Ausschaltung der VPA (B) vorzubeugen. Parallel zu dieser äußerlichen Zurückhaltung wurden ab Mittag - als sich die Situation in den Betrieben allgemein wieder beruhigt hatte - Maßnahmen zur Zerschlagung der betrieblichen Streikleitungen vorbereitet, die beim Eintreffen von ausreichender Verstärkung durchgeführt werden sollten. Das Erscheinen der Sowjetarmee ermöglichte in den Abendstunden ihre Realisierung, so daß in der Farbenfabrik Wolfen 23, in der Filmfabrik Wolfen drei und im EKB nachweislich neun Streikaktivisten festgenommen werden konnten. Berichten aus der Farbenfabrik Wolfen zufolge wurden die Festgenommenen sofort durch einen Oberst der Sowjetarmee vernommen, wobei Funktionäre der SED und Angehörige des Betriebsschutzes sowie des MfS zugegen waren. Im Ergebnis dieser Vernehmung setzte man 14 Personen wieder auf freien Fuß, neun Streikaktivisten blieben inhaftiert. Auch in den anderen Betrieben dürfte es zur Praktizierung einer vergleichbaren Vorgehensweise gekommen sein, was aber - bedingt durch unvollständige Quellen - nicht nachzuweisen war. Die festgenommenen Streikaktivisten wurden von der Sowjetarmee grundsätzlich den deutschen Sicherheitsbehörden zur Strafverfolgung übergeben. In den darauffolgenden Tagen wurde in den Betrieben weiter nach namentlich bekannten Streikaktivisten gefahndet. Offenbar kam es auch zu Denunziationen innerhalb der Belegschaft. Auch diejenigen, die sich weiterhin für die Interessen der Arbeiterschaft und für die Freilassung verhafteter Kollegen einzusetzen versuchten, waren der Gefahr der Denunziation und Verhaftung ausgesetzt.

Im Stadtgebiet von Bitterfeld wurden am Nachmittag des 17. Juni einige Streikteilnehmer von der einrückenden Besatzungsmacht verhaftet.

Neben der Verfolgung der Verletzungen des Ausnahmezustandes wurde ab dem 18. Juni die Fahndung nach Streikaktivisten systematisch auf andere Firmen - wie den VEB EKM Rohrleitungsbau Bitterfeld und das Reichsbahnbetriebswerk Bitterfeld - sowie das gesamte Kreisgebiet ausgeweitet. Wiederum kam den Sicherheitsorganen die Denunziationsbereitschaft verschiedener Einwohner zu Hilfe. Weiterhin wurde nach den aus der UHA befreiten Häftlingen gefahndet.

Die Polizei führte während dieser Fahndung Personen-, Verkehrs-, Gaststätten- und Wohnungskontrollen durch. Neben den Wohnungen namentlich bekannter Streikaktivisten und befreiter Häftlinge sollten auch die Unterkünfte ihrer Verwandten und Bekannten ständig beobachtet werden. Bei einer solchen Wohnungskontrolle wurde am frühen Morgen des 23. Juni in Spören das SED-Mitglied Erich Langwitz "auf der Flucht erschossen". Dieser wurde mit dem LPG-Vorsitzenden Otto Langwitz aus Glebitzsch verwechselt, den man auf Grund eines an die Polizei gerichteten anonymen Schreibens festnehmen wollte. In diesem Brief wurde Otto Langwitz der Teilnahme an den Bitterfelder Unruhen bezichtigt. Erich Langwitz war im Kreis Bitterfeld offenbar das einzige Opfer, das im Zusammenhang mit dem 17. Juni durch Fremdeinwirkung zu Tode gekommen war. Dabei ist es durchaus bemerkenswert, daß es während dieser Fahndung zu keinem weiteren Todesopfer kam, denn die Polizei wurde beispielsweise am 21. Juni von VP-Inspekteur Zaspel, dem Chef der BDVP Halle, angewiesen, die "rücksichtslose Festnahme der noch ... vorhandenen Provokateure und Agenten ... unbedingt durchzuführen". Im Rahmen dieser Fahndungsaktion wurden insgesamt ca. 3.000 Personen durch das VPKA Bitterfeld überprüft. Mittels Fahndungslisten wurde nach denjenigen Streikaktivisten gesucht, die auch sechs Tage nach dem Aufstand noch nicht festgesetzt werden konnten. Die Mehrzahl dieser Personen befand sich auf der Flucht nach Westberlin oder Westdeutschland. Die Gesamtzahl der im Kreis Bitterfeld im Zusammenhang mit dem 17. Juni verhafteten Personen ließ sich nicht genau feststellen. Die BDVP berichtete von 85 Personen, die bis zum 22. Juni im Kreisgebiet festgenommen werden konnten. Es ist jedoch anzunehmen, daß sich diese Zahl in den folgenden Tagen noch erhöht hatte.

Die festgenommenen Personen wurden zunächst in der Bitterfelder UHA inhaftiert - ein Insasse nahm sich hier durch Erhängen das Leben - und wurden nach Vernehmungen durch Angehörige der Kriminalpolizei (Abteilung K 1) entweder der Staatsanwaltschaft, dem MfS oder der Besatzungsmacht übergeben. Einige dieser Personen wurden jedoch bereits nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt, wobei am 18. Juni von VP-Inspekteur Zaspel die Anweisung gegeben wurde, daß die "Freilassung solcher Festgenommener ... in diesen Tagen nur Einzelbeispiele sein" dürfen.

Die Untersuchungen wurden von den deutschen Behörden auf Bezirksebene, d. h. durch den Bezirksstaatsanwalt bzw. in der Bezirksdienststelle des MfS weitergeführt. Im Archiv der Außenstelle Halle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) - wo sämtliche Ermittlungsakten zum 17. Juni 1953 aus dem Bezirk Halle zusammengefaßt wurden - befindet sich ein Dossier mit 116 personenbezogenen Untersuchungsvorgängen, die mit dem Aufstand in Bitterfeld in Verbindung zu bringen waren. Jedoch sind nur zu 65 Vorgängen die Akten erhalten geblieben.

Die Inhaftierten wurden durchweg beschuldigt, ein Verbrechen gegen den Artikel 6 der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949 begangen zu haben. Der Text dieses Artikels lautete:

Nach der Intention der Autoren dieser Verfassung im Verfassungsausschuß des Deutschen Volksrates sollte dieser Artikel "nur gegen faschistische Tendenzen [angewendet werden], die den Gleichheitsgrundsatz, der in Artikel 6 Abs. 1 geregelt war, verletzen bzw. fundamental bedrohen". Die ideologisch inspirierte Gleichstellung der bürgerlichen Gesellschaft in der BRD mit einem faschistischen Regime im Kontext des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts, führte Anfang der 1950er Jahre innerhalb der DDR-Justiz zu der Tendenz, die Ausübung verfassungsmäßig zugesicherter Rechte - beispielsweise freie Meinungsäußerung nach Artikel 9 der Verfassung - durch DDR-Bürger als Boykotthetze zu qualifizieren und entsprechend zu ahnden. Die offizielle Bewertung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 als faschistischer Putsch bzw. Putschversuch, machte die Anwendung dieses Artikels durch die Strafverfolgungsorgane quasi zwingend notwendig. Dieses Vorgehen sollte augenscheinlich durch die Anwendung interalliierter Rechtsnormen legitimiert werden, denn die Inhaftierten wurden parallel des Zutreffens des Artikels 3 Absatz A Ziffer 3 der Direktive Nr. 38 des alliierten Kontrollrats in Deutschland vom 31. Oktober 1946 für schuldig befunden. Diese Direktive sollte die "Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und die Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen" regeln, der Artikel 3 Absatz A definierte den Kreis der belasteten Aktivisten, die Ziffer 3 dieses Absatzes hatte folgenden Wortlaut:

Gemäß der SED-Interpretation des Charakters des Aufstandes eignete sich diese Rechtsnorm zur Anwendung gegen Streikaktivisten durch die Strafverfolgungsorgane der DDR.

Von den 65 nachweisbaren Untersuchungsvorgängen, die in der Außenstelle Halle des BStU archiviert sind, wurden 30 Personen ob ihrer Aktivitäten an ihren Arbeitsstätten verhaftet, d. h. sie waren entweder Mitglieder von Streikleitungen, unterstützten diese, wurden gegenüber Funktionären handgreiflich oder zerstörten Propagandamaterialien. Fünf dieser 30 Inhaftierten setzten sich noch am 18. bzw. 19. Juni für die Belegschaftsinteressen ein oder forderten die Freilassung von inhaftierten Kollegen; fünf Personen wurden nachweislich bereits am 17. Juni in den entsprechenden Betrieben festgesetzt, hier kann allerdings keine exakte Zahl angegeben werden, da das Datum der Verhaftungen in den Unterlagen zahlreicher Vorgänge nicht erwähnt wurde. Weitere 31 Personen wurden wegen ihres Handelns im Gebiet des Kreises und hauptsächlich in der Stadt Bitterfeld festgenommen. Davon waren sechs Personen Mitglieder der Kreisstreikleitung, vier Personen nahmen an den Ausschreitungen in Sandersdorf und Zscherndorf teil, weitere vier Personen wurden ob in Gasthäusern infolge übermäßigem Alkoholkonsums geäußerter Regimekritik festgenommen. Vier Vorgänge konnten von mir nicht eingesehen werden, da sie sich in drei Fällen gegenwärtig im Prozeß der juristischen Rehabilitation befinden, zu einer Person waren lediglich die nicht den Aufstand betreffenden Akten überliefert. Unter den 65 Personen befanden sich nur zwei Frauen, fünf waren ihrer politischen Ausrichtung nach SED-Mitglieder, zwei CDU-Mitglieder und je eine Person war LDP- bzw. NDPD-Mitglied. 58 Personen standen zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung in einem Arbeits- oder Angestelltenverhältnis, unter ihnen war ein in der Farbenfabrik Wolfen angestellter Wissenschaftler und ein als Stadtrat in der Stadtverwaltung Raguhn beschäftigter Funktionär der CDU. Zwei Personen waren selbständig, zwei bezogen eine Rente und eine weitere Person war arbeitslos. Die wirtschaftliche Stellung der zwei übrigen Personen konnte nicht festgestellt werden. Acht der 65 Personen waren Umsiedler, wobei die Herkunft von vier weiteren Personen nicht ermittelt werden konnte.

Die inhaftierten Personen wurden, nachdem man sie nach Halle überführt hatte, in der UHA des MfS Am Kirchtor untergebracht. Sie wurden während ihrer Untersuchungshaft durchschnittlich zwei Mal vernommen. Diese Verhöre fanden teilweise während der Nachtstunden statt, dauerten in der Regel mehrere Stunden und wurden offenbar mittels rüder Methoden durchgeführt. Über die Verhörmethoden ist nur in einem Fall etwas aktenkundig geworden. Im Rahmen der Verhandlungen im Falle Fuchs/Hillebrand/Menzel monierte der Vorsitzende Richter Schmidt die schlechte Ermittlungsarbeit, die den Eindruck erweckte, als ob irgend etwas zur Verurteilung der Beschuldigten gefunden werden mußte. Es seien keine Zeugen gehört und die Beschuldigten in den Vernehmungen unter massiven psychischen Druck gesetzt worden. Es kann angenommen werden, daß bei den Vernehmungen der übrigen Beschuldigten ähnliche Methoden zur Anwendung kamen.

In 32 Fällen wurden die Ermittlungen eingestellt, gegen 30 Personen wurde vor dem Bezirksgericht Halle Anklage erhoben und in drei Fällen konnte das Ergebnis der Untersuchungen nicht ermittelt werden.

Vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle wurden in erster Instanz 15 Prozesse gegen eine und vier Prozesse gegen mehrere Personen geführt. Von diesen 19 Prozessen wurden 13 mit dem erstinstanzlichen Urteil bis zum 25. Juli abgeschlossen, wobei der erste Beschuldigte bereits am 28. Juni - einem Sonntag - abgeurteilt wurde. Die zweite Welle von insgesamt sechs Prozessen erstreckte sich zwischen dem 13. Oktober und 15. Dezember 1953; während dieser Zeit wurden auch die Verhandlungen gegen die als hauptsächliche Rädelsführer angesehenen Hans Bergander, Paul Gleim, Paul Othma und Hermann Stieler durchgeführt. Die Gründe für die Herausbildung dieser zweiten Prozeßwelle waren unterschiedlich. Nur für die umfangreicheren Vorbereitungen des Verfahrens gegen die vier Rädelsführer war ein derartig langer Zeitraum notwendig. Bei den anderen Verfahren hatte die Justiz wohl eher Schwierigkeiten, den Beschuldigten strafwürdiges Verhalten nachzuweisen. In einem Fall wurde das Verfahren nach zwischenzeitlicher Einstellung gar wieder aufgerollt. Die Eile bei der Verurteilung der anderen Beschuldigten ist dagegen relativ eindeutig mit dem Bedürfnis des SED-Staates nach der Statuierung abschreckender Exempel zu erklären. Zwar wurde der Bitterfelder Bevölkerung nur im Fall Max Schlittchen das Urteil durch die Lokalpresse öffentlich bekanntgegeben, doch kann man davon ausgehen, daß durch mündliche Kommunikation die Urteile durch die Angehörigen der Verurteilten - sofern diese ihnen bekannt waren - unter der Bitterfelder Bevölkerung publik gemacht worden sind; nicht zuletzt sollte den Beschuldigten selbst die Härte der DDR-Justiz gegen vermeintlich faschistische Provokateure - als die sie ja qualifiziert worden waren - vor Augen geführt werden.

Die während der ersten Prozeßwelle im Durchschnitt sechs Tage vor dem Verhandlungstermin eingereichten Anklageschriften der Bezirksstaatsanwaltschaft Halle erhoben in acht Fällen den Vorwurf des Landfriedensbruchs nach § 125 StGB, in eine Fall den der Nötigung nach § 240 StGB und in einem weiteren den der Bedrohung nach § 241 StGB. Der Vorwurf der Verfassungsverletzung und des Zutreffens der Kontrollratsdirektive 38 wurde demnach in zehn Fällen fallengelassen. Lediglich in einem Verfahren wurde die Anklage noch auf diese beiden Tatbestände aufgebaut. In den beiden übrigen Fällen wurde den Beschuldigten nur das Zutreffen der Kontrollratsdirektive 38 Artikel 3 Absatz A Ziffer 3 vorgeworfen, in einem Fall in Verbindung mit Landfriedensbruch.

Das Gericht folgte bei seiner Urteilsfindung allgemein den Anträgen der Staatsanwaltschaft in Hinsicht auf Strafnorm und Strafhöhe. Die in einem Fall erhobene Anklage wegen Vergehens gegen Artikel 6 der Verfassung wurde abgewiesen. Waren die Angeklagten Mitglieder der SED, so wurde ihnen ihre Parteimitgliedschaft als strafverschärfender Umstand angerechnet. In der Urteilsbegründung des Verfahrens gegen Heinz Fuchs, Erich Hillebrand und Kurt Menzel hieß es dazu, daß beim "Angeklagten Menzel ... strafverschärfend zu berücksichtigen [war], dass er Genosse der SED ist". Die Staatsanwaltschaft ging in vier Fällen und die Verteidigung in zwei Fällen vor das Oberste Gericht der DDR in Berufung. Die Staatsanwaltschaft konnte drei Mal die Aufhebung der Urteile und die Zurückweisung der Fälle an den 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle erwirken, wobei diesem Strafsenat klare Vorgaben für die Strafbemessung gemacht wurden. Aber auch die Verteidigung konnte einen Erfolg verbuchen; in diesem Falle verminderte der Strafsenat 1b des Obersten Gerichts der DDR selbst die ausgesprochene Strafe von drei Jahren Zuchthaus um einen Monat. In dieser ersten Phase wurden Urteile zwischen acht Monaten Gefängnis und acht Jahren Zuchthaus ausgesprochen, wobei es auch drei Verfahrenseinstellungen gab.

Die Staatsanwaltschaft klagte während der Prozeßwelle im Herbst 1953 die Beschuldigten in drei Fällen eines Vergehens nach Artikel 6 der Verfassung und des Zutreffens des Artikels 3 Absatz A Ziffer 3 der Kontrollratsdirektive 38 an, in einem weiteren Fall wurde nur auf das Zutreffen des letztgenannten Artikels plädiert. In den zwei übrigen Fällen wurde den Beschuldigten Landfriedensbruch in Verbindung mit gefährlicher Körperverletzung nach § 223 a StGB bzw. Widerstand gegen die Staatsgewalt nach § 113 StGB vorgeworfen. Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle folgte den Anträgen der Staatsanwaltschaft zu deren vollen Zufriedenheit, es gab von ihrer Seite keine Anfechtungen der Urteile. Aber auch die Verteidigung legte in keinem Fall Revision ein. Der 1. Strafsenat sprach Urteile zwischen 18 Monaten Gefängnis und 12 Jahren Zuchthaus aus, wobei die härtesten Strafen von 8 bzw. 12 Jahren Zuchthaus die - da die anderen Köpfe des Aufstandes geflüchtet waren - als hauptsächliche Rädelsführer angesehenen Paul Gleim und Paul Othma trafen. Sie wurden als einzige Beschuldigte der Verletzung des Artikels 6 der Verfassung für schuldig befunden. Denjenigen, die man wegen des Zutreffens des Artikels 3 Absatz A Ziffer 3 der Kontrollratsdirektive 38 verurteilt hatte, wurden außerdem die Sühnemaßnahmen nach Artikel 9 Ziffern 3 bis 9 dieser Direktive auferlegt. Diese Bestimmungen hatten folgenden Wortlaut:

Außerdem wurde das gesamte Vermögen von Paul Othma eingezogen.

Die gegenüber der ersten Prozeßwelle relativ härtere Verurteilung der beschuldigten Personen während der Verhandlungen im Herbst 1953 läßt Rückschlüsse auf eine stärkere Disziplinierung der Angehörigen der DDR-Justiz durch die im Juli 1953 eingesetzte Justizministerin Hilde Benjamin (SED) zu, insbesondere die zweieinhalbmonatige Pause zwischen den beiden Phasen, für die sich nur schwer eine rationale Erklärung finden läßt, deutet darauf hin. Zunächst ließ die Regierung der DDR bereits am 17. Juni verlautbaren, daß die "Schuldigen an den Unruhen ... zur Verantwortung gezogen und streng bestraft" würden. Diese Linie wurde von der SED vorgegeben, die auf der 14. Tagung ihres Zentralkomitees die unmittelbare Aufgabe der Partei darin sah, "den angeschlagenen Gegner entscheidend zu schlagen ... [und] die faschistischen Banden restlos zu liquidieren". Der damalige Justizminister Max Fechner war dagegen bemüht, diese ideologische Komponente aus der Tätigkeit der Justizorgane weitgehend herauszuhalten. In einem Interview mit dem Zentralorgan der SED Neues Deutschland vertrat er die Auffassung, daß "nur solche Personen bestraft werden [dürfen], die sich eines schweren Verbrechens schuldig machten. Andere Personen werden nicht bestraft. Dies trifft auch für Angehörige der Streikleitung zu." Dieser Standpunkt war für die Justiz im Juli 1953 offenbar weitgehend maßgeblich, denn neben einer Reihe von Verfahrenseinstellungen basierten die Anklageschriften und Urteile in der Mehrheit der verhandelten Fälle auf dem Vorwurf des Landfriedensbruchs. Auch das Gericht nutzte bei der Strafbemessung in der Mehrzahl der Fälle den unteren bzw. mittleren Bereich des Verfügungsrahmens, handelte also im Vergleich zu politischen Prozessen vor und nach dem 17. Juni 1953 nicht extrem überspitzt.

Der Konflikt zwischen Max Fechner und der SED-Führung war abzusehen und führte Mitte Juli 1953 zu dessen Rücktritt. Die Ernennung von Hilde Benjamin, der bisherigen stellvertretenden Präsidentin des Obersten Gerichts der DDR, zu seiner Nachfolgerin löste in der Bevölkerung und insbesondere unter den Arbeitern, welche aus den Aussagen Fechners die Berechtigung für ihr Bemühen zur Freilassung von verhafteten Kollegen abgeleitet hatten, verhaltene Kritik aus. Man war sich der weiteren Verschärfung der Rechtsprechung - zumindest in politischen Fällen - bewußt. Ein Vergleich der ersten mit den im Herbst durchgeführten Prozessen bestätigt diese Befürchtung. Da die den Beschuldigten vorgeworfenen Delikte in der Mehrzahl nur schwer mit strafrechtlichen Normen faßbar waren, versuchte man diese als Aktivisten im Sinne des Artikels 3 Absatz A Ziffer 3 der Kontrollratsdirektive 38 zu brandmarken. Es ist durchaus bemerkenswert, daß nur zwei Beschuldigte wegen Verstoßes gegen den Artikel 6 der Verfassung verurteilt wurden, wenn man die entsprechende Anwendungspraxis seit 1950 betrachtet, jedoch läßt sich dieser Umstand in das Bemühen der SED einordnen, auch innerhalb der Justiz einen Neuen Kurs zu etablieren. Dies nötigte selbst Hilde Benjamin am 29. August 1953 zu der Feststellung: "Fehlerhaft war auch, daß [bisher] undifferenziert hohe Strafen für Verbrechen nach Artikel 6 der Verfassung verhängt wurden." Man war offenbar bemüht, die Anwendung verfassungsmäßig verankerten Strafrechts durch eine interalliierte Strafnorm zu ersetzen, die letztendlich den selben Zweck erfüllte. Die durchschnittliche Höhe der verhängten Strafen hielt sich - mit Ausnahme der Urteile gegen Paul Gleim und Paul Othma, letzterer wurde erst 1961 aus dem Zuchthaus entlassen - in Grenzen.

Die Auswirkungen der Urteile auf die Lebensumstände der Delinquenten waren erheblich. So stellte die Haftzeit insbesondere in der Vita älterer Personen eine markante Zäsur dar, und die Sühnemaßnahmen, welche man denjenigen auferlegte, die nach der Kontrollratsdirektive 38 verurteilt worden waren, bedeuteten quasi den leblenslangen Ausschluß dieses Personenkreises aus allen gesellschaftlichen Beziehungen; im Falle von Paul Othma ruinierte die Vermögenseinziehung außerdem die Lebensgrundlage seiner Familie.

Aber auch ohne auferlegte Sühnemaßnahmen konnten sich die Menschen, die einmal in den Strudel der Untersuchungen zum 17. Juni 1953 geraten waren, des Stigmas der Teilnahme am Aufstand innerhalb der DDR-Gesellschaft nicht mehr entziehen. Sie hatten bei der Berufsausübung, bei der Wohnungssuche, im Verkehr mit Behörden etc. ständig mit Benachteiligungen zu rechnen.

Eine besonders perfide Verfolgung der Streikaktivisten war ihre Werbung zur inoffiziellen Mitarbeit für den in Folge des 17. Juni 1953 zum Staatssekretariat degradierten Staatssicherheitsdienst.

In fünf von 61 nachvollziehbaren Fällen wurden die der Teilnahme am Aufstand beschuldigten Personen zu Spitzeldiensten für das MfS genötigt, dabei war nur eine dieser Personen in einem Prozeß verurteilt worden. Es fällt auf, daß allein drei dieser Personen im Bahnhof und Betriebswerk Bitterfeld der Deutschen Reichsbahn beschäftigt waren; diese Betriebe hielt man bei der Staatssicherheit offenbar für politisch sehr unzuverlässig. Die beiden anderen Personen waren in der Filmfabrik sowie der Farbenfabrik Wolfen beschäftigt. Die angeworbenen Personen hatten in ihren Betrieben allesamt eine Tätigkeit inne, die ihnen die Beschaffung von Informationen über ihre Kollegen ermöglichte, welche die Mitarbeiter des MfS interessierten, außerdem waren sie ob ihrer charakterlichen Eigenschaften ihren Kollegen gegenüber zugänglich und genossen wegen ihres Engagements am 17. Juni deren Vertrauen. Alfred Höfer und Otto Rickelt waren als Angestellte in den Verwaltungen ihrer Betriebe - Filmfabrik Wolfen bzw. Bahnbetriebswerk Bitterfeld - tätig; Heinz Fuchs und Anton Püschel waren Arbeiter auf dem Bahnhof bzw. im Bahnbetriebswerk Bitterfeld und Ulrich Dreyer war Chemiker in der Farbenfabrik Wolfen, er war offenbar der einzige Angehörige der Intelligenz, der im Rahmen der Untersuchungen zum 17. Juni 1953 festgenommen worden war, obwohl man in die Streikleitung der Farbenfabrik mehrere Intelligenzler gewählt hatte. Da jene aber offenbar nicht auf diese Weise verfolgt wurden, kann angenommen werden, daß die Inhaftierung Dreyers durch die Bitterfelder Staatssicherheitsdienststelle mit dem Ziel der Anwerbung vorgenommen worden war. Die Zusammenarbeit mit diesen Personen war für das MfS allerdings nicht fruchtbar: Ulrich Dreyer und Anton Püschel flüchteten ca. ein halbes Jahr nach ihrer Anwerbung nach Westdeutschland bzw. Westberlin; die Zusammenarbeit mit den übrigen Personen wurde nach einem mehr oder minder langen Zeitraum, währenddessen diese Personen dem Kontakt mit den Mitarbeitern des MfS aus dem Wege zu gehen versuchten, aufgelöst. Um den Druck, der durch die Werber des MfS ausgeübt wurde, ausweichen zu können, war bei den Kandidaten offenbar schnell die Bereitschaft zu erwirken, handschriftliche Verpflichtungen zur Bespitzelung ihrer Umgebung auszufertigen; die Bereitschaft zu einer kontinuierlichen Berichterstattung war aber schwerer zu erreichen. Womöglich fehlte den Personen der permanente Druck durch den Führungsoffizier des MfS - ihm konnte man offenbar besser aus dem Wege gehen - wahrscheinlich haben aber moralische Skrupel gegenüber den Kollegen diese Verweigerungshaltung gefördert.

Die Kriterien, nach denen in Folge des Aufstandes Personen inhaftiert und abgeurteilt wurden, treten nicht klar zu Tage. In den Quellen sind mehrfach Personen nachzuweisen, die am 17. Juni 1953 oder danach ähnlich gehandelt hatten wie verschiedene Personen aus dem Kreis der Inhaftierten und Verurteilten. Diese haben sich weder auf die Flucht begeben noch wurden sie nachweislich strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder sahen sich dem erpresserischen Druck des MfS zur Zusammenarbeit ausgesetzt. Deshalb ist anzunehmen, daß es der SED nicht auf eine umfassende Ahndung der Geschehnisse des Aufstandes ankam, sondern lediglich gegenüber einigen Akteuren die Macht des Staates demonstriert werden sollte. Zwar wurde die Öffentlichkeit nur punktuell über die Prozeßurteile im Zusammenhang mit dem Aufstand informiert, doch spielten informierte Angehörige innerhalb der mündlichen Kommunikation eine Multiplikatorenrolle. Diese Tatsache war der SED bekannt und wurde offenbar in ihrer Informationspolitik berücksichtigt.

Das innerhalb der Arbeiterschaft vorhandene Konfliktpotential wurde durch die beschriebene Vorgehensweise nicht beseitigt, man hätte auch schwerlich Tausende von Industriearbeitern wegen ihrer Aktivität am 17. Juni aburteilen können, die abschreckenden Beispiele der Inhaftierung und Verurteilung von Kollegen sollte die Arbeiter zunächst ruhig stellen, wozu allerdings auch eine Reihe von Zugeständnissen dienen sollten.

Beginn

 

4. 2. Ideologische Indoktrination und materielle Manipulation der Arbeiterschaft

Die SED reagierte auf den Aufstand mit einer ausgedehnten Propagandakampagne, die der Bevölkerung einerseits die offizielle Interpretation seines Charakters näher bringen und andererseits über Maßnahmen der Regierung im Rahmen des Neuen Kurses aufklären sollte. Diese Kampagne konzentrierte sich vor allem auf die Belegschaften der Produktionsbetriebe, welche am 17. Juni als Initiatoren und Träger des Aufstandes in Erscheinung getreten waren. Neben der Aufklärung über den faschistischen Charakter des 17. Juni wurde insbesondere den Mitgliedern der Betriebsbelegschaften die Möglichkeit geboten, in relativ offenen Diskussionen Forderungen und Wünsche in Zusammenhang mit ihrer Arbeits- und Lebenssituation zu formulieren. Damit sollte der Wut und Verbitterung der Arbeiterschaft ein Ventil geöffnet werden, das einerseits die Aufrichtigkeit der Politik des Neuen Kurses vortäuschen und andererseits den Betriebsleitungen, Parteiorganisationen und Sicherheitsorganen die Möglichkeit geben sollte, bisher unentdeckte Streikaktivisten und Kritiker ausfindig zu machen, um gegen diese entweder disziplinarisch, ideologisch oder strafrechtlich vorgehen zu können.

In Bitterfeld gliederte sich diese Kampagne in zwei Phasen. Die erste Phase, die sich vom 22. Juni bis zum 10. Juli erstreckte, sollte der ideologischen Aufklärung über den Charakter des 17. Juni und der Registrierung jener Forderungen und Wünsche dienen, welche innerhalb der verschiedenen Betriebsbelegschaften formuliert wurden. Zu diesem Zweck wurden zunächst die Funktionäre der Grundorganisationen von SED, FDGB und FDJ auf Aktivtagungen über die offizielle Sprachregelung der Partei im Bezug auf die Interpretation des Aufstandes informiert, welche sie dann auf Vollversammlungen der Grundorganisationen von SED und FDJ den Genossinnen und Genossen an der Basis vermitteln sollten. Dies hatte die Herausbildung einer großen Anzahl von Agitatoren zum Ziel, welche die Stimmung unter den Mitgliedern der Belegschaften vor und während der folgenden Belegschaftsversammlungen im Sinne der SED beeinflussen sollten. Sowohl die Teilnahme- als auch die Diskussionsbereitschaft unter den Mitgliedern von SED und FDJ während der Vollversammlungen der Grundorganisationen war für die Funktionäre unbefriedigend, was auf eine große Distanz der Mitglieder zur Politik ihrer Organisationen schließen läßt. Eine Manipulation der Diskussionen auf den Belegschaftsversammlungen fand dann auch kaum statt, so daß die berichterstattenden Funktionäre immer wieder beklagen mußten, daß sich die Belegschaftsmitglieder bei politischen Stellungnahmen, d. h. der Interpretation des Aufstandes im Sinne der SED zurückhaltend verhielten und vor allem wirtschaftliche Belange thematisierten. Entsprechend der Betriebsgröße wurden diese Versammlungen in den Großbetrieben auf Abteilungsebene durchgeführt, deshalb konnten von den dortigen Funktionären zahlreiche Versammlungen bei ihren vorgesetzten Instanzen abgerechnet werden. In Klein- und Mittelbetrieben - soweit diese zum volkseigenen Sektor gehörten - fanden meist nur eine oder zwei Versammlungen statt. Grundsätzlich sollte jedem Belegschaftsmitglied die Gelegenheit geboten werden, seine Probleme vorzutragen.

Ein zusammenfassender Bericht über die erste Versammlungswelle läßt sich in den Quellen nur aus dem EKB nachweisen, allerdings kann man diesen Bericht als beispielhaft für Versammlungen in anderen Betrieben auffassen. Hier wurden zwischen dem 24. Juni und dem 8. Juli 54 Versammlungen mit den Belegschaften aus 171 Abteilungen durchgeführt. Die durchschnittliche Teilnahmequote lag bei 31,2 %. "In den Versammlungen ... hatten alle Anwesenden Gelegenheit, Fragen zu stellen und Wünsche und Forderungen der Belegschaft vorzubringen." So formulierten die Belegschaftsmitglieder insgesamt 979 Anliegen, von denen 770 innerhalb des EKB geregelt werden konnten. Diese Forderungen und Wünsche bezogen sich auf Lohn- und Gehaltsfragen (408), auf soziale und kulturelle Betreuung (241), auf Probleme des Arbeitsschutzes (u. a. Schutzbekleidung) und der Erschwernisvergütung (70) sowie der Arbeitsorganisation (51). Über den Inhalt der 209 Punkte, die nicht innerhalb des Werkes geregelt werden konnten, wurde nichts ausgesagt. Vermutlich bezogen sie sich vor allem auf die Forderung nach Freilassung der nach dem 17. Juni inhaftierten Kollegen. Zwar hatten sich diese Diskussionen in den letzten Junitagen wieder beruhigt, doch erhielten sie durch das Interview Max Fechners mit dem Parteiorgan Neues Deutschland, das am 30. Juni 1953 veröffentlicht wurde, neue Impulse. Die Belegschaftsmitglieder sahen sich in ihrem Anliegen bestätigt, so daß sie sich nicht gescheut haben dürften, dieses während der Versammlungen vorzubringen.

Die Forderungen nach Lohnerhöhungen wurden in ca. 90 % der Fälle genehmigt, sie bezogen sich vor allem auf die niedrigen Lohngruppen I bis IV. Die entstandenen Mehrkosten lagen für das EKB monatlich bei 60.000,- DM, wobei aber das Volumen des gesetzlich vorgeschriebenen Lohnfonds nicht überschritten wurde. Im Angestelltenbereich wurden 216 Gehaltserhöhungen genehmigt, wobei sich auch der Umfang dieser Erhöhungen im finanziellen Rahmen des bestätigten Stellenplans bewegte.

Defizite in der sozialen und kulturellen Betreuung begründete man mit dem Alter des Werkes und der Untätigkeit des IG-Farbenkonzerns auf diesem Gebiet. Zur Behebung der gravierenden Mißstände wurden 450.000,- DM aus dem Direktionsfonds bereitgestellt - da man annahm, daß die von der Regierung zugewiesenen Mittel dafür nicht ausreichen würden - und durch die BGL ein Sofortprogramm erarbeitet, daß eine Reihe von konkreten Verbesserungsvorhaben enthielt. Neben dem schlechten Zustand der sanitären und sozialen Einrichtungen im Werk bedrückten die Beschäftigten auch Wohnraumprobleme, unzureichende Einstufungen bei der Lebensmittelkartenzuteilung und die schlechte Versorgung der Werksküchen mit Milch, einem wichtigen Nahrungs- und Entgiftungsmittel für Chemiearbeiter. Fehlende Arbeitsschutz-bekleidung wurde ausgegeben und Forderungen nach Erschwerniszulagen weitgehend erfüllt, wobei die Lohnsumme um 13,000,- DM stieg, aber auch dieses Mal der gesamte Fonds nicht überschritten wurde. Die Vorschläge zur Verbesserung des arbeitsorganisatorischen Ablaufs befanden sich zum Zeitpunkt der Berichterstellung noch in der Bearbeitungsphase.

Man kann konstatieren, daß die Betriebsleitungen nur solchen Forderungen entgegenkamen, welche durch bisher nicht ausgeschöpfte betriebliche Reserven zu befriedigen waren. Über vorgegebene Plankennziffern hinausgehende Maßnahmen wurden nicht genehmigt, wobei man auf Regelungen durch die Regierung wartete. Diese war anscheinend nur bemüht, sich mittels derartiger Berichte über die Forderungen der Belegschaften zu informieren, d. h. man war bei den zuständigen Verwaltungsstellen nur unzureichend über die reale Situation in den Betrieben informiert.

Die Betriebsleitungen - deren Spielräume durch die Plankennziffern vorgegeben wurden - konnten Forderungen nach grundlegender Änderung verschiedener Regelungen nur registrieren und weitergeben. Das betraf beispielsweise die Forderungen nach Wiedereinführung eines Sonntags- und eines Nachtzuschlags von 50 bzw. 15 %, nach klar definierten Erschwernis- und Überstundenzulagen oder Gewährung von Haushaltstagen für weibliche Werktätige.

Die Unentschlossenheit der Betriebsleitungen und die abwartende Haltung der Regierung führte letztendlich dazu, daß solche Forderungen größtenteils im Verwaltungsdschungel versandeten und nicht realisiert werden konnten.

"Normenfragen sind in den Versammlungen fast nicht angesprochen worden, da diese sämtlich durch die Regierung ... geklärt [worden] sind." Selbst der vereinzelt auftretenden Bereitschaft zu freiwilliger Normsteigerung, wurde von den Betriebsleitungen mit Unsicherheit entgegen getreten, denn der Auslöser des Aufstandes war ihnen noch gut in Erinnerung geblieben. Man forderte vielmehr von der Regierung konkrete Richtlinien für die Realisierung dieser freiwilligen Erhöhungen ein.

Während der ersten Versammlungswelle wurde in den verschiedenen Großbetrieben mehrfach die Meinung geäußert, daß ein Mitglied der Regierung die gegenwärtige Lage und den Neuen Kurs vor der Belegschaft der Betriebe oder vor der Bevölkerung in Bitterfeld darlegen sollte. Von der SED-Führung wurde auf diesen Wunsch, der durch die parteiinternen Kanäle weitergeleitet worden war, dadurch reagiert, daß man die ZK-Sekretärin Edith Baumann, bisher mit Jugend- und Frauenpolitik beschäftigt, zu einer Kundgebung in das EKB entsandte. Dies war sowohl für die SED-Kreisleitung Bitterfeld, als auch für die Belegschaft des EKB unbefriedigend und symbolisierte die Geringschätzung, welche das Politbüro des ZK der SED den Arbeitern im Industrierevier Bitterfeld-Wolfen entgegen brachte. Auch die vorsichtige Kritik der SED-Kreisleitung im Bezug auf die nicht vorhandene Kompetenz Edith Baumanns bei industriepolitischen Problemen, konnte diese Propagandakundgebung nicht verhindern, welche somit als Abschluß der ersten Welle der Betriebsversammlungen am 9. Juli 1953 im Klubhaus des EKB stattfand. Durch ein vierseitiges Dossier, welches eine kurze Darstellung der Ereignisse vom 17. Juni im EKB und in Bitterfeld und eine Auflistung der während der Betriebsversammlungen häufig angesprochenen Probleme enthielt, wurde versucht, die Genossin aus dem ZK über die Situation im EKB in Kenntnis zu setzen.

Die Veranstaltung nahm einen unspektakulären Verlauf. Entgegen verschiedener Erwartungen, daß ein Mitglied der Regierung oder Parteiführung Klarheit über die gegenwärtige Situation, d. h. auch über deren Gründe und über die zukünftige Entwicklung vermitteln würde, gab Edith Baumann nur die bekannte Parteiinterpretation über den Charakter des 17. Juni 1953 und den ebenfalls vielfach gehörten Appell zum Vertrauen in "das ehrliche Bemühen der Partei und Regierung ... [zur] Verbesserung der Lebenslage unserer Bevölkerung" wieder. Kein Bekenntnis zur Verantwortung verfehlter Politik und kein Vorschlag zur Lösung der die Belegschaft und Betriebsführung belastenden Probleme kam über ihre Lippen. Neben der Wertung der Qualität der Arbeiterschaft im Industrierevier Bitterfeld-Wolfen durch die SED-Führung, die in der Entsendung Edith Baumanns zum Ausdruck kam, verdeutlichte ihr Auftreten gleichzeitig die Konzeptions- und Perspektivlosigkeit, die im Führungszirkel der SED zu dieser Zeit geherrscht haben muß.

Am 10. Juli 1953 begann in den Betrieben des Kreises Bitterfeld die zweite Welle der Belegschaftsversammlungen. Die neuerlichen Veranstaltungen, die in Anzahl und Umfang eine ähnliche Ausdehnung wie jene während der ersten Welle gehabt haben dürften, verfolgten den Zweck, die Belegschaftsmitglieder über die Realisierung der Anregungen zu unterrichten, die aus ihren Reihen hervorgebracht worden waren. Damit sollte durch die Beseitigung von Ansatzpunkten für Kritik an der jeweiligen Betriebsführung das unter den einzelnen Belegschaften vorhandene Konfliktpotential verringert werden.

Das Motiv der Entlarvung von Streikaktivisten und Kritikern spielte auch während der zweiten Versammlungswelle eine Rolle innerhalb ihrer Durchführung, zumal in diese Zeit - die zweite Welle dürfte bis zum Ende des Monats Juli angedauert haben - die nochmalige Zuspitzung der Situation in der DDR um den 15. Juli fiel, als in verschiedenen Betrieben der Republik wiederum gestreikt und der Justizminister Fechner zum Rücktritt gezwungen wurde, dessen Auffassung über die Verfolgung von Straftätern des 17. Juni den Arbeitern Rechtfertigung für ihr Verlangen nach Freilassung inhaftierter Kollegen war. Die Diskussionen darüber, die Verunsicherung durch den Rücktritt Max Fechners und die Kritik an der Ernennung Hilde Benjamins zur neuen Justizministerin wurden von der Partei und den Sicherheitsorganen genau registriert. In den Situationen, da der Konflikt zu eskalieren drohte, reagierte man zu diesem Zeitpunkt zumeist mit ideologischem Druck und fristloser Entlassung der Aktivisten des Widerstandes.

Unmittelbar nach dem 17. Juni wurden auch die im Bereich der öffentlichen Verwaltungen tätigen Funktionäre über die offizielle Interpretation der Ereignisse und über die Grundzüge einer Politik instruiert, die - letztendlich nur zeitweilig - den Problemen und Belangen der Einwohner aufgeschlossener entgegen treten sollte. Nachzuweisen sind hier allerdings nur vier Bürgermeisterversammlungen, die im Kreis Bitterfeld am 20. Juni durchgeführt und von Mitarbeitern des Rates des Kreises geleitet wurden. Man kann annehmen, daß die Propagandakampagne innerhalb der Staatsorgane ein ähnliches Ausmaß wie in der Industrie gehabt hatte; lediglich die größere Aufmerksamkeit der SED gegenüber der Industrie verhinderte einen stärkeren Niederschlag der Aktivitäten innerhalb der Verwaltungen in den Quellen.

Die von der SED unmittelbar nach dem 17. Juni 1953 aufgezogene Propagandakampagne, die sich vor allem auf Betriebsbelegschaften konzentrierte, verfolgte drei Ziele:

1. Zunächst sollten Gegner in offenen Diskussionen entlarvt und danach unschädlich gemacht werden, damit diese in sich wiederholenden Krisensituationen - wie eine solche bereits um den 15. Juli eintrat - nicht als Polarisations- und Organisationszentren von Unzufriedenheit und Widerstand innerhalb der Arbeiterschaft in Erscheinung treten konnten.

2. Man versuchte, den Arbeitern eine ideologische Interpretation der Aufstandsereignisse nahezubringen, um einerseits die Fehler und die Konzeptionslosigkeit der SED zu kaschieren und andererseits unter denjenigen Arbeitern, die am Aufstand teilnahmen, emotionale Gefühle von Mitschuld an der gegenwärtigen Situation und eine aus dieser Mitschuld resultierenden Verpflichtung zu Loyalität gegenüber Partei und Staat zu erzeugen, welche die latente Konfliktbereitschaft der Arbeiterschaft eindämmen und die Handlungsfreiheit des Staates und der Partei wieder derart erweitern sollte, daß die nach dem 17. Juni 1953 eingeräumten ökonomischen Zugeständnisse später Schritt für Schritt zurück gefahren werden konnten, ohne erneut aktiven Widerstand zu erzeugen. Damit verbunden waren einerseits die Bestrebungen, die eingeräumten ökonomischen Zugeständnisse als geplante Komponenten des Neuen Kurses darzustellen, um unter der Arbeiterschaft kein Bewußtsein der eigenen Stärke im Bezug auf Forderungen gegenüber Partei und Staat aufkommen zu lassen, andererseits wurde zunächst eine gewisse politische Liberalisierung vorgetäuscht, die u. a. in offen geführten Diskussionen auf Belegschaftsversammlungen und der Tolerierung der Rechtsauffassung des Justizministers Max Fechner, welche der Auffassung der Arbeiterschaft zur Bestrafung von Streikaktivisten entgegenkam, zum Ausdruck kam. Freilich wurde diese politische Scheinliberalisierung bereits vier Wochen nach dem 17. Juni wieder beschränkt, was unter der Arbeiterschaft deutlich an der Einsetzung Hilde Benjamins als Justizministerin wahrgenommen wurde. Hierbei spielte gewiß die sich abzeichnende Klärung der internen Machtverhältnisse in der SED zugunsten von Walter Ulbricht eine Rolle.

3. Da sich durch den Aufstand herausgestellt hatte, daß die Arbeiterschaft - wie es von ihr erwartet wurde - nicht ohne weiteres dem ideologisch begründeten industriepolitischen Entwicklungsplan der SED zu folgen bereit war, wurde es als notwendig erachtet, deren Akzeptanz bzw. Duldung - parallel zu verstärkter ideologischer Manipulation - durch ökonomische Konzessionen und eine spürbare Abschwächung des ehrgeizigen Industrieentwicklungsplans - wenn auch nur vorübergehend - zu erkaufen. Freilich wurde versucht, diese Konzessionen als aus dem Neuen Kurs resultierende Maßnahmen darzustellen, ein Bezug zum 17. Juni sollte unbedingt vermieden werden, doch war unter den Arbeitern das Gefühl der Zurücksetzung gegenüber anderen Bevölkerungsschichten - wie sie es nach der Verkündung des Neuen Kurses vielfach empfunden hatten - noch gut in Erinnerung. Der Anlaß für diese Liberalisierung auf ökonomischem Gebiet wurde durchaus im Aufstand und damit im eigenen Handeln gesehen. Es war aber nicht zu verhindern, daß gerade durch die ökonomischen Konzessionen viele Arbeiter die Ursache für ihren Protest beseitigt sahen und sich damit über die wahren Absichten der Partei täuschen ließen.

Die SED verfolgte nach dem 17. Juni 1953 eine Doppelstrategie zur Minderung des Konfliktpotentials innerhalb der Arbeiterschaft. Die Erleichterung der wirtschaftlichen Situation des einzelnen Arbeiters ging mit der Verpflichtung ihrer Masse auf passive Unterstützung der Politik von Partei und Staat einher, die auf einem kollektiven Schuldgefühl an den Ereignissen des 17. Juni 1953 basieren sollte, wo sich die Masse der Arbeiter - nach SED-Verständnis - von Provokateuren zum Widerstand verleiten ließ. Daß die Mehrzahl auch der Bitterfelder Arbeiter sich lediglich durch die ökonomischen Zugeständnisse korrumpieren ließen, änderte nichts am langfristigen Erfolg dieser Strategie. Die Notwendigkeit einer weitgehenden ökonomischen Sicherheit des Individuums als Voraussetzung für dessen passive Unterstützung der offiziellen Politik war erkannt und in der weiteren Entwicklung der DDR berücksichtigt worden.

Beginn

 

4. 3. Personalpolitische Disziplinierung

Waren von der strafrechtlichen Ahndung der Ereignisse des Aufstandes nachweislich vor allem Akteure aus Arbeiterschaft und Bevölkerung betroffen, so wurde die personalpolitische Disziplinierung auch auf die Bereiche gesellschaftlicher Organisationen (einschließlich der SED), Verwaltung und Sicherheitsorgane ausgedehnt. Vor allem in den Betrieben stellte die fristlose Entlassung ein probates Mittel zur Bestrafung von Streikaktivisten dar, deren Handlungen nicht durch strafrechtliche Normen erfaßt werden konnten. Die Absetzung von Funktionären, die Entlassung von Verwaltungsangestellten und die Degradierung sowie Entpflichtung von Angehörigen der Sicherheitsorgane war die Konsequenz ihres - aus SED-Sicht - unangemessenen und verräterischen Handelns am 17. Juni 1953.

Eine fristlose Entlassung aus einem VEB bedeutete für die betroffene Person auf absehbare Zeit quasi ein Arbeitsverbot im Bereich des sozialistischen Wirtschaftssektors, da ein unter staatlicher Kontrolle stehender Betrieb niemanden einzustellen bereit war, der aus einem solchen entlassen worden war. Eine Arbeitsaufnahme im noch stattlichen privaten Wirtschaftssektor war fast immer mit Einkommenseinbußen verbunden, auch insofern man gemäß seiner Qualifikation eingestellt wurde. Jedoch war gerade eine qualifikationsgerechte Wiedereinstellung für Facharbeiter oder Ingenieure aus der chemischen Industrie Bitterfelds in der Privatindustrie ein Problem, da im privaten Sektor kaum Firmen mit einem chemischen Produktionsprofil vorhanden waren. Für einen fristlos entlassenen Beschäftigten der Chemieindustrie gab es demnach in seiner künftigen beruflichen Entwicklung ein vom Staat aufgebautes unüberwindliches Hindernis, welches die Grundlage seiner Existenz in Frage stellte. Die logische Reaktion vieler dieser Personen war zu dieser Zeit die Migration nach Westdeutschland oder Westberlin, wo sie zudem auf Grund ihrer Entlassungspapiere als politische Flüchtlinge anerkannt wurden. Diese Form der Bestrafung von Streikaktivisten hatte offenbar den Zweck, diese aus der Gesellschaft auszuschließen und zur Flucht zu veranlassen.

Von dem Zeitpunkt an, da die Kaderabteilungen der Betriebe davon Kenntnis erhielten, daß ihre ehemaligen Arbeiter und Angestellten auf Grund der fristlosen Entlassung in Westdeutschland bzw. Westberlin als politische Flüchtlinge anerkannt wurden, versah man die Papiere von aus politischen Gründen entlassenen Personen mit unverfänglichen Gründen. Offenbar war den Firmen daran gelegen, sich im westlichen Ausland kein negatives Image auf Grund von politisch bedingten fristlosen Entlassungen aufzubauen. Auch wollte man den Entlassenen die Gestaltung ihrer persönlichen und beruflichen Zukunft in Westdeutschland oder Westberlin sicher nicht vereinfachen. Ob aber diese Vorgehensweise die Migrationsbereitschaft von fristlos Entlassenen einschränkte, die in der DDR keine Perspektive mehr sahen und tatsächlich auf absehbare Zeit auch nicht mehr hatten, ist zu bezweifeln.

In den Quellen lassen sich je eine Statistik über die Entlassungs- und Fluchtbewegung zwischen dem 17. Juni und dem Monat Oktober 1953 nachweisen, die im VPKA Bitterfeld erarbeitet wurden. So wurden am 13. November 1953 die Namen von 124 Entlassenen aus den Bitterfelder und Wolfener Großbetrieben in einer Statistik erfaßt. Hierbei fällt auf, daß in quantitativer Hinsicht keine Entlassungen im exzessiven Maße durchgeführt wurden, sondern sich diese - bei Beachtung der Betriebsgrößen - in einem Rahmen bewegten, welcher einer normalen Beschäftigtenfluktuation entsprach. Abgesehen davon, daß sich die Firmen keine Massenentlassungen aus wirtschaftlichen Gründen hätten leisten können, weil es kein äquivalentes Arbeitskräftereservoir auf einem Arbeitsmarkt gab, war auch nicht die Zahl der Entlassenen, sondern die Qualität ihrer Entlassungsgründe entscheidend. Die Absicht des Staates, die hinter dieser Praxis stand, war nicht eine mehr oder minder kurzfristige Unterbrechung des Arbeitsprozesses aus wirtschaftlichen Gründen, sondern eine langfristig wirksame Disziplinierung des dem Staat mißfallenden politischen Mißverhaltens des einzelnen Individuums.

Entlassen wurden auch die in Haft genommenen Streikaktivisten, dabei war eine erwiesene Schuld offenbar nicht von Bedeutung. Ausgenommen davon waren natürlich die zur Mitarbeit für das MfS geworbenen Streikaktivisten. Lediglich 7 % der auf der Liste aufgeführten Personen waren Frauen. In ihrer politischen Orientierung gehörten 27 % zum Zeitpunkt ihrer Entlassung der SED an, der Anteil ehemaliger Nationalsozialisten betrug 15,5 %, wobei es zu Überschneidungen bei der Parteimitgliedschaft kam. Nachdem in den Monaten Juni und Juli 1953 viele Inhaftierte und einige auffällige Personen entlassen wurden, kam es zwischen August und Oktober 1953 im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Monaten zu einer regelrechten Entlassungswelle. Hier sticht die Parallelität zu der zweiten Prozeßwelle im Herbst 1953 ins Auge. Meiner Meinung nach drückte sich hier wiederum die Klärung der SED-internen Machtkämpfe aus, die auch mit der Einschränkung zunächst vorgetäuschter politischer Liberalisierung in Zusammenhang standen.

Neben politisch bedingter Arbeitslosigkeit gab es für die Migration von Arbeitnehmern vielfältige Ursachen. Neben allgemeiner Unzufriedenheit mit dem System und dem Wunsch nach Familienzusammenführung spielte die Unzufriedenheit mit der allgemeinen Entwicklung im betrieblichen Bereich eine Rolle, so daß sich insbesondere auf Grund zunehmender staatlicher Reglementierung des innerbetrieblichen Produktionsablaufs hochqualifizierte Facharbeiter nach Westdeutschland bzw. Westberlin begaben, auch ohne vorher entlassen worden zu sein.

In der Republikfluchtstatistik vom 12. November 1953 wurden 297 Migrationsfälle im Kreis Bitterfeld zwischen dem 17. Juni und dem 31. Oktober 1953 registriert. Davon wurden lediglich 8,4 % als Provokateure bezeichnet und 17 % waren nach dem 17. Juni fristlos entlassen worden. 8 % der Personen waren vor 1945 Mitglieder der NSDAP gewesen und 7 % waren zum Zeitpunkt ihrer Migration Mitglieder der SED. Berücksichtigt man, daß einer migrierten Person mindestens ein bis zwei Familienangehörige zuzurechnen sind, kann man davon ausgehen, daß betriebliche Konsequenzen bei der 1953 im Kreis Bitterfeld ansteigenden Westmigration als Motiv eine wichtige, jedoch keine dominierende Rolle spielten. Der Grad des Anstiegs der Migrationsbewegung lag offenbar im Rahmen eines sich in den darauffolgenden Jahren fortsetzenden Trends und kann demnach nicht als eine im Aufstand begründete Ausnahmeerscheinung angesehen werden.

Neben den Konsequenzen für die Werktätigen bekamen auch die Mitglieder und Funktionäre der SED und anderer gesellschaftlicher Organisationen die Folgen der Disziplinierung nach dem 17. Juni 1953 zu spüren. Ein quantifizierbarer Nachweis aus den überlieferten Quellen der SED fällt hierfür allerdings schwerer, als bei der präzisen Registrierung der Republikflucht durch die Polizei. Festgestellt kann zumindest werden, daß auch in Bitterfeld die landesweite Säuberung der Partei einsetzte, die verschiedenen Personen ob ihrer Aktivitäten am 17. Juni oder dem bloßen Ausdruck ihrer Sympathie dazu ihre Parteimitgliedschaft kostete, in den drei Großbetrieben des Kreises waren das unmittelbar nach dem 17. Juni 44 Personen. Diese Zahl mag zunächst als ein niedriger Wert erscheinen, jedoch muß man beachten, daß der Anteil der Parteimitglieder an der Belegschaft der Großbetriebe nur einen geringen Teil ausmachte.

Gleichzeitig wurde zum Rundumschlag gegen andere mißliebige Mitglieder ausgeholt, die beispielsweise wegen Kontakten nach Westberlin oder Westdeutschland als nicht mehr tragbar galten. Der Vorsitzende der Kreisleitung der SED Kipp soll am 31. Juni mit dem Vorwurf versöhnlerischem und opportunistischem Verhaltens gegenüber den Aufständischen des 17. Juni von seinem Posten abgelöst worden sein. Zwar hatte man sich bei dieser Angabe wohl im Datum geirrt, da noch während der ersten Julihälfte zahlreiche Schriftstücke aus der SED-Kreisleitung Bitterfeld mit seiner Urheberschaft nachzuweisen sind, daß er aber auf seinem Posten längere Zeit verbleiben konnte, muß bezweifelt werden. Über sein weiteres Schicksal wurde in den mir zur Verfügung stehenden Quellen nichts berichtet. Auch über die Vorgehensweisen innerhalb anderer Parteien und Organisationen konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Ergänzend müßten hierzu spezielle Untersuchungen vorgenommen werden.

Kaderpolitische Konsequenzen waren auch in den Dienststellen der Verwaltungen und Sicherheitsorgane im Kreis Bitterfeld, die am 17. Juni vollständig versagt hatten, nachzuweisen. Strafrechtlich wurden für ihre Handlungen am 17. Juni offenbar nur Erich Leine, Kraftfahrer beim Rat des Kreises, und Kurt Naumann, Stadtrat in der Stadtverwaltung Raguhn, zur Verantwortung gezogen. Erich Leine wurde am 15. Dezember 1953 vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle wegen der Teilnahme an den Bitterfelder Unruhen vor der UHA wegen schwerem Landfriedensbruchs zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Kurt Naumann wurde durch den selben Senat am 22. Juli 1953 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, da er in Raguhn den amtierenden Bürgermeister für abgesetzt erklärt und sich zu seinem Nachfolger ernannt hatte. Ob diesen Verhaltens wurde vom Gericht auf Zutreffen des Artikels 3 Absatz A Ziffer 3 der Kontrollratsdirektive 38 erkannt.

Strafrechtliche Ahndung wegen Versagens im Amt war nicht nachzuweisen. Jedoch verloren auf Grund dessen der Vorsitzende des Rates des Kreises Kurt Spiller, der Bürgermeister von Bitterfeld Wolfgang Stille, der Chef des VPKA Josef Nossek und offenbar auch der Chef der MfS-Dienststelle Scharsig ihren Posten. Über das berufliche Schicksal anderer Funktionäre - wie des Kreisstaatsanwalts Flucke - konnte nichts in Erfahrung gebracht werden, jedoch ist anzunehmen, daß auch er nach dem Wechsel an der Spitze des Justizministeriums abgesetzt worden ist.

Als einziger dieser Vorgänge ist der Fall des Josef Nossek in den Quellen ausführlich dokumentiert worden, deshalb möchte ich ihn als Beispiel für die personalpolitische Disziplinierung von Staatsfunktionären nach dem 17. Juni 1953 näher schildern.

Josef Nossek gab, nachdem er am Morgen des 17. Juni in verschiedenen Großbetrieben und im Kreisgebiet die Situation persönlich in Augenschein genommen hatte, in Abstimmung mit dem MfS-Dienststellenleiter Scharsig an sämtliche Polizeikräfte im Kreis die Anweisung, keine Waffen gegen Demonstranten einzusetzen und diese zudem sicher zu verwahren, im VPKA und in der UHA ging er am Vormittag und Mittag eine begrenzte Kooperation mit den Aufständischen ein, um eine Zerschlagung der Sicherheitsorgane zu vermeiden. Dies konnte er dadurch zwar nicht verhindern, doch gelang es ihm durch sein Handeln, eine drohende Eskalation der Ereignisse abzuwenden. Dieses Verhalten wurde von seinen Vorgesetzten als "Kapitulation und Feigheit vor faschistischen Provokateuren" gewertet, wobei dieser Vorwurf dazu benutzt wurde, um auf ihn die Schuld für das Versagen sämtlicher Sicherheitsorgane und Verwaltungsstellen in Bitterfeld zu projizieren. Der VP-Inspekteur Zaspel ließ Josef Nossek am 21. Juni von zwei Offizieren der BDVP Halle in Disziplinarhaft nehmen, die zehn Tage andauern sollte. Da Nossek aber aus Protest gegen diese Maßnahme jegliche Nahrungsaufnahme verweigerte, wurde er nach zwei Tagen freigelassen. Am 23. Juni will die SED-Sekretärin des VPKA VP-Kommissar Stantart unter Nosseks dienstlichen Unterlagen ein Schreiben eines Befreiungskomitees für die Ostzone aus Konstanz vorgefunden haben, was wiederum zum Anlaß genommen wurde, um ihn am Morgen des 24. Juni in seiner Privatwohnung durch ein achtzehnköpfiges Polizeikommando verhaften und der BDVP Halle überstellen zu lassen. Über ein strafrechtliches Verfahren gegen Nossek konnte nichts ermittelt werden, dieses kann jedoch als wahrscheinlich angenommen werden. Die dienstrechtlichen Folgen seines Verhaltens waren die Degradierung zum VP-Unterwachtmeister und der Ausstoß aus den Reihen der Polizei mit Wirkung vom 1. Juli 1953. Die Arbeitsuche des Josef Nossek nach seiner Entpflichtung verlief offenbar recht schwierig, eine Einstellung in einen der Großbetriebe im Kreis wurde durch die SED-Kreisleitung untersagt. Über sein weiteres berufliches Schicksal konnte nichts herausgefunden werden.

Die Art des Untersuchungsverfahrens und die in verschiedenen Ermittlungsberichten erhobenen Vorwürfe gegen Nossek deuten darauf hin, daß mit ihm ein universeller Sündenbock für das Versagen der Sicherheitsorgane und Verwaltungsstellen am 17. Juni 1953 in Bitterfeld konstruiert wurde, durch den sich die vorgesetzten Offiziere in den Bezirksdienststellen der Polizei und wahrscheinlich auch des MfS von jeglicher Mitverantwortung reinwaschen wollten. Über die Funktionsweise dieser Sicherheitsorgane während des Aufstandes auf unterer und mittlerer Ebene fehlen allerdings noch tiefgründige Analysen.

Parallel zu der Untersuchung des Verhaltens von Josef Nossek wurden im Bereich des VPKA Bitterfeld unmittelbar nach dem 17. Juni sowohl von der HVDVP als auch von der BDVP Halle verschiedene Instruktionseinsätze durchgeführt, während denen das Gesamtverhalten der zum Bereich des VPKA Bitterfeld zählenden Polizeieinrichtungen am 17. Juni und danach analysiert werden sollte. Der Fall Nossek war ausdrücklich nicht Gegenstand dieser Untersuchungen, in deren Ergebnis verschiedene Disziplinarstrafen, aber auch ideelle und materielle Stimulanzien ausgesprochen wurden. So stieß man im Zusammenhang mit dem Aufstand weitere vier Polizisten mit Mannschaftsdienstgraden aus den Reihen der Polizei aus, da sie Feigheit zeigten und kapitulantenhaftes Verhalten an den Tag legten. Diese Polizisten hatten sich demnach für einen Dienst in der DVP als ungeeignet erwiesen, sie wurden als Risikofaktoren in einer potentiell neu entstehenden Krisensituation aus den Reihen der Polizei beseitigt. Diese Maßnahmen stellten demnach eher eine Säuberung als eine Disziplinarmaßnahme dar.

Aber es wurden auch Prämien und Auszeichnungen für vorbildliches Verhalten verteilt, so wurden vier Polizisten mit einer Prämie von je 200,- DM belohnt, was ungefähr einem halben Monatsgehalt entsprach. Zwei andere Polizisten sollten mit dem Ehrenabzeichen der DVP ausgezeichnet werden.

Die Kaderpolitik nach dem 17. Juni 1953 im Kreis Bitterfeld läßt sich demnach auf drei Entwicklungslinien konzentrieren:

1. Aus Betrieben und der Polizei - wahrscheinlich aber auch aus Verwaltungsstellen und dem MfS - wurden Personen durch Entlassungen oder Entpflichtungen entfernt, um sie als Risikofaktoren innerhalb der entsprechenden Institutionen während erneut auftretender Krisensituationen ausschalten zu können. Die fristlose Entlassung oder Entpflichtung war für die betroffene Person mit einer starken Reglementierung ihrer beruflichen Perspektiven innerhalb der DDR verbunden, so daß sich nicht wenige dieser Personen zur Migration nach Westdeutschland bzw. Westberlin entschlossen, wo sie zudem auf Grund ihrer Entlassung oder Entpflichtung als politische Flüchtlinge anerkannt wurden. Das Verlassen der DDR durch diese Personen war offenbar als Folge der personalpolitischen Disziplinierung von der SED kalkuliert worden, d. h. diese Menschen wurden mitsamt ihren Familien aus der DDR vertrieben und somit als Konfliktpole im Lande ausgeschaltet.

2. Innerhalb der SED und wahrscheinlich auch anderer gesellschaftlicher Organisationen begann nach dem 17. Juni 1953 eine ideologisch begründete Säuberung des Mitgliederbestandes, wobei sich die Gründe für den Ausschluß von Mitgliedern nicht nur auf deren Aktivitäten oder Sympathien für den Aufstand beschränkten. Vielmehr wurden auch andere mißliebige Parteimitglieder aus der SED entfernt, die alle vorherigen Säuberungen überstanden hatten oder erst später in die Partei eingetreten waren.

3. In Bitterfeld wurden auf Kreisebene offenbar sämtliche Funktionäre in Folge des Aufstands entfernt, die eine maßgebliche Funktion inne hatten. Dies erscheint nicht ungewöhnlich, da ja die gesamte Verwaltung und alle Sicherheitsorgane im Kreis gegen Mittag des 17. Juni 1953 völlig handlungs- und reaktionsunfähig waren. Die Art und Weise der Absetzung des Chefs des VPKA läßt jedoch die Vermutung aufkommen, daß sich durch derartige Bauernopfer Funktionäre höherer Chargen ihrer Verantwortung für die Vorkommnisse im Kreis Bitterfeld entledigen wollten. Ob dieses Verhalten die entsprechenden Funktionäre vor ähnlichen kaderpolitischen Konsequenzen bewahrt hatte, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht festgestellt werden. Dieser Elitenwechsel auf Kreisebene gab den vorgesetzten Stellen die Möglichkeit, qualifiziertere und linientreuere Kader in die entsprechenden Positionen einzusetzen und somit die Repräsentation der Staatsmacht im Kreis Bitterfeld zu stärken.

Für diejenigen, die nach dem Aufstand nach nicht klar definierten Grundsätzen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder personalpolitisch diszipliniert wurden, stellte der 17. Juni 1953 einen tiefen Einschnitt in ihre Vita dar. Die Perspektive für ihr privates Leben und ihre berufliche Tätigkeit wurde in einem zunehmend stärker von der SED kontrollierten Staat erheblich eingeschränkt, wenn nicht gar völlig zerstört. Die Motive der Partei und des Staates lagen - neben der Ahndung von Straftaten - in dem Bemühen um Ausschaltung politisch unzuverlässiger Parteimitglieder und Funktionäre sowie der Verdrängung von sich in Zukunft womöglich als Kulminationszentren der Kritik gegen Staat und Partei erweisenden Arbeitnehmern aus den Betrieben des volkseigenen Industriesektors.

Die Masse der Industriearbeiterschaft, die man durch derartige Maßnahmen nicht erfassen wollte und aus ökonomischen Gründen nicht konnte, sollte mittels einer ideologischen Propagandakampagne diszipliniert und durch ungekannte materielle Zugeständnisse dem Staat gegenüber verpflichtet werden. Insbesondere diese Zugeständnisse waren es, welche die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft zu beschwichtigen halfen, gegen den Versuch der ideologischen Indoktrination reagierte diese allerdings eher mit Abschottung.

Das Herausdrängen des kritischen Potentials der Belegschaft aus den Betrieben und die damit verbundene einschüchternde Wirkung auf die Kollegen führte zu einer Stagnation in der innerbetrieblichen Auseinandersetzung um Arbeitsprozesse und Pläne etc. Ob man die langfristigen Konsequenzen dieser Vorgehensweise allerdings absichtlich herbeigeführt hatte, bleibt jedoch zweifelhaft, da man beispielsweise während der Anwendung des Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in den 1960er Jahren auf ein kritisches Potential an der industriellen Basis zurückgreifen wollte, dies allerdings nur im engen betrieblichen und vor allem unpolitischen Rahmen. Neben dieser Stagnation im Zusammenwirken von Betriebsbelegschaften, Partei und Betriebsleitungen kam es nach dem 17. Juni 1953 in Folge einer zielstrebigen Kaderpolitik zu einer weiteren Erhöhung des Einflusses der SED auf die lokalen und regionalen Verwaltungen. Die Sicherheitsorgane hatte die Partei ohnehin seit deren Konstituierung im festen Griff. Diese Elemente - die weitgehende Ruhigstellung der Arbeiterschaft und die strikte Kontrolle der Staatsorgane durch die SED - können auch auf Kreisebene als hauptsächliche Säulen der Entwicklung innerhalb der DDR angesehen werden.

Kapitel 5

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Inhalt

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© Olaf Freier (1995)