6. Zusammenfassung

Das Industrierevier Bitterfeld-Wolfen war während des Aufstandes vom 17. Juni 1953 ein wichtiges Aktionszentrum im damaligen Bezirk Halle.

Die Werktätigen in den Großbetrieben des Kreises traten am 17. Juni in den Arbeitskampf, um gegen die stetige Verschlechterung der individuellen Lebensverhältnisse - die sich in Einbußen des Realeinkommens ausdrückte - zu protestieren. Dieser Protest schlug um die Mittagszeit des 17. Juni in Aggression gegen die den Staat repräsentierenden Einrichtungen in Bitterfeld um. Die Gründe hierfür lagen hauptsächlich darin, daß der Protest von den Werktätigen aus den Betrieben in das Zentrum der Stadt Bitterfeld getragen wurde und sich dort auch nicht werktätige Personen aus verschiedenen Gemeinden und der Stadt Bitterfeld an den Protestaktionen beteiligten konnten. Obwohl diese jedoch nichts mit dem ursächlichen Protestbedürfnis der Werktätigen gemein hatten, nutzten sie die Gelegenheit, um ihrem gegen die SED und die Regierung gerichteten Haß Ausdruck zu verleihen.

Aus einem innerbetrieblichen Arbeitskampf entwickelte sich am 17. Juni 1953 im Kreis Bitterfeld eine Aufstandsbewegung, in deren Verlauf die Aufständischen den wichtigsten Staatsorganen zeitweilig ihre vollständige Handlungsfähigkeit nehmen konnten.

Der nicht vorhandenen Erfahrung bei der Organisation von Arbeitskämpfen und Protestaktionen gegen staatliche Einrichtungen sowie der großen Teilen der Bevölkerung des Kreises Bitterfeld und nicht zuletzt führenden Mitgliedern des Kreisstreikkomitees fehlenden Motivation zu konsequentem Widerstand gegen die Macht des Staates war es zu schulden, daß die Aufstandsbewegung in Bitterfeld bereits am Nachmittag des 17. Juni 1953 - beim Erscheinen von sowjetischen Militäreinheiten - lautlos zusammenbrach.

Für die Beteiligten beider Seiten zogen die Ereignisse teilweise tiefgreifende Folgewirkungen nach sich. So war der Staat bemüht, die Teilnahme am Streik sowie am Aufstand strafrechtlich und personalpolitisch zu ahnden. Dabei stellte die fristlose Entlassung neben der Inhaftierung und Verurteilung ein probates Mittel zur Disziplinierung der Streik- und Aufstandsaktivisten dar. Bei dieser Ahndung ging man allerdings nicht nach erkennbaren Prinzipien vor. Offenbar wurden hier Exempel statuiert, welche auf jene Streik- und Aufstandsteilnehmer abschreckend wirken sollten, die man aus politischen und ökonomischen Gründen nicht zur Rechenschaft ziehen wollte.

Die Motive des Staates für die Art und Weise der Ahndung der Aufstandsereignisse waren einerseits die physische Bestrafung der Aufstandsaktivisten durch Freiheitsentzug und anderseits die Vertreibung von kritischen Bürgern aus dem Land durch den Entzug ihrer Lebensgrundlagen, d. h. durch fristlose Entlassungen aus den Arbeitsverhältnissen. Diese Vorgehensweise wurde durch die spezifische Situation des geteilten Deutschlands und des gehandhabten Regimes an der Grenze zu Westberlin begünstigt.

Aber auch die Angehörigen der Staatsorgane und der gesellschaftlichen Organisationen wurden nach dem 17. Juni ob ihres Verhaltens gegenüber den Protestierenden zur Verantwortung gezogen. Dabei bedeutete dies für viele Funktionäre auf der unteren Verwaltungsebene die zwangsweise Beendigung ihrer beruflichen Karriere sowie für viele Mitglieder der SED den Verlust ihrer Parteimitgliedschaft.

Der Bevölkerung und insbesondere der Arbeiterschaft wurde nach dem 17. Juni durch eine groß angelegte Propagandakampagne versucht, die Ereignisse des 17. Juni als faschistischen Putschversuch nahezubringen. Begleitet wurde diese Propagandakampagne durch umfangreiche materielle Zugeständnisse an die Bevölkerung und wiederum insbesondere an die Arbeiterschaft, welche deren angestauten sozialen Frust entschärften und ihre Tolerierung der Politik von Partei und Regierung sicherstellen sollten. Parallel hierzu wurde - nach einer kurzen Phase scheinbarer Liberalisierung der Politik von SED und Regierung, die jedoch nur Ausdruck einer SED-internen Machtkämpfen geschuldeten Desorientierung war - ab Mitte Juli 1953 der durch die SED-Führung auf die Bevölkerung der DDR ausgeübte politische Druck wieder verschärft.

All diese Maßnahmen sollten dem Abbau des Konfliktpotentials innerhalb der Bevölkerung und insbesondere der Arbeiterschaft sowie der Stärkung des Staatsapparates und der SED-Kontrolle über ihn dienen.

Während meiner Untersuchungen über den Aufstand im Industrierevier Bitterfeld-Wolfen bestätigte sich anschaulich die These von Axel Bust-Bartels, daß die "Arbeiter - unter reger Beteiligung der Jugend - ... im wesentlichen den Aufstand getragen" haben. Auch das durch Torsten Dietrich erarbeitete Drei-Phasen-Modell läßt sich auf den Verlauf der Ereignisse in Bitterfeld anwenden. Ebenso haben sich hier Martin Jänickes Thesen über die unmittelbaren Reaktionen der Partei und Regierung auf den Aufstand bestätigt.

Differenzen zu meinen Untersuchungsergebnissen taten sich dagegen zu den Feststellungen von Angelika Klein auf, die bisher die einzige regionalspezifische Arbeit zu den Ereignissen des 17. Juni 1953 im damaligen Bezirk Halle und damit auch zum Kreis Bitterfeld vorgelegt hat. Dies mag vor allem darin begründet sein, daß sie für diese Arbeit ausschließlich Quellen ausgewertet hatte, die innerhalb des SED-Apparates erarbeitet worden waren.

Resümierend ist festzustellen, daß die Ursachen, der prinzipielle Verlauf und die Folgewirkungen des 17. Juni 1953 in der DDR durch die bisherige wissenschaftliche Debatte hinreichend analysiert worden sind. Große Defizite bestehen dagegen jedoch in der regional- und lokalspezifischen Untersuchung des Aufstandes.

Der Aufstand stand in kausalem Zusammenhang mit der bei der Verkündung des Neuen Kurses am 9. Juni 1953 vom Politbüro des ZK der SED geübten Selbstkritik. Er hätte ohne dieses Eingeständnis von politischen Fehlentwicklungen wahrscheinlich in dieser Form nicht stattgefunden. Doch bleibt es der historische Verdienst der Bevölkerung und insbesondere der Werktätigen der DDR und somit auch jener im Industrierevier Bitterfeld-Wolfen, daß sie spontan auf die offenbar gewordene politische Fehlentscheidungen der SED durch massiven Protest reagiert haben. Dies stellte in der Geschichte der DDR - sieht man von den Ereignissen im Jahre 1989 ab - eine singuläre Erscheinung dar.

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© Olaf Freier (1995)