1. Einleitung

Der Aufstand vom 17. Juni 1953 war ein für die Entwicklung der DDR prägendes Ereignis. Die Erfahrung dieser Entladung des Volkszorns, welche die Staats- und Parteiführung vollkommen überraschte und ihr zudem mittels der marxistisch-leninistischen Dialektik nicht erklärbar war, prägte bis in das Jahr 1989 traumatisch das Handeln maßgeblicher Staats- und Parteifunktionäre der DDR, die den Aufstand oftmals als junge Kader miterlebt hatten. In der Bevölkerung der DDR lebte dagegen unterschwellig - weil offiziell verdrängt - ein kollektives Bewusstsein des misslungenen Aufbegehrens gegen die Herrschaft der SED fort. Dieses Wissen ließ einerseits zwar alle Versuche von Dissidenten scheitern, innerhalb der DDR eine breite Oppositionsbewegung gegen die Staatspartei zu organisieren; andererseits erhielt es aber gerade innerhalb dieser Gruppen die Hoffnung auf eine sich wiederholende tiefe Krise des Systems aufrecht, welche ihnen dann die Möglichkeit für eine breite Widerstandsaktion eröffnen würde.

In der Bundesrepublik wurde der Aufstand von unterschiedlichen politischen Gruppierungen als Synonym für den Widerstandswillen der Bevölkerung in der DDR gegen die sie beherrschende Partei verstanden. Von den westdeutschen Parteien wurde das Aufbegehren gegen die Regierung der DDR als ein deutliches Signal des unvermindert existierenden Willens der Bevölkerung der DDR zur staatlichen Einheit nach dem Muster der Bundesrepublik gewertet. Diese Parteien und Gruppierungen nahmen in den darauf folgenden Jahrzehnten die Ereignisse um den 17. Juni 1953 in unterschiedlicher Weise für sich in Anspruch und nutzten sie für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Unmittelbarer Ausdruck dieser Bestrebungen war das Erscheinen einer großen Zahl von Veröffentlichungen, die in dokumentarischer Aufmachung ihre jeweilige ideologische Botschaft propagandistisch am Beispiel des 17. Juni 1953 ihren Lesern nahe zu bringen versuchten, wobei hier die eigentlichen Ursachen und Motive des Protestes der Bevölkerung in der DDR zweitrangig waren. Als Beispiele sollen an dieser Stelle nur einige Broschüren angeführt werden, die das gesamtdeutsche Ministerium der Bundesregierung sowie die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit herausgegeben hatten. Heinz Theisen veröffentlichte 1978 eine Bibliographie, in welcher er alle bis dato erschienenen Monographien, Aufsätze und veröffentlichten Reden aufführte. Dabei wiesen 27 von 37 verzeichneten Monographien eher Qualitäten propagandistischer Pamphlete als wissenschaftlicher Arbeiten auf.

Die erste umfassende und analytische Darstellung der Ereignisse um den 17. Juni 1953 veröffentlichte Stefan Brant alias Klaus Harpprecht unter Mitwirkung von Klaus Bölling im Jahre 1954. Der Autor konzentrierte sich in seiner Darstellung vor allem auf Ostberlin und einige Aktionszentren innerhalb der DDR, wo Geschehnisse durch Augenzeugenberichte geflüchteter Aktivisten belegt werden konnten. Er begründete - trotz aller vorhandenen strukturellen und funktionellen Defizite - ausführlich die Qualität Aufstand als Charakteristik dieser Ereignisse und zeigte auf, dass diese vor allem von Arbeitern getragen wurden. Weiterhin stellte er erstmals umfassend die Vorgeschichte des Aufstandes dar und brachte ihn in kausalen Zusammenhang mit dem Beschluss zum Aufbau des Sozialismus in der DDR, welcher auf der II. Parteikonferenz der SED im Sommer 1952 verabschiedet worden war.

Ergänzend zu Brants umfassender Darstellung legte Arnulf Baring mit seiner M.A.-These, welche er im Jahre 1957 an der New Yorker Columbia University anfertigte, und der darauf basierenden deutschsprachigen Monographie von 1965 eine prägnante Analyse der Ursachen und Ereignisse des Aufstandes vor.

Beide Arbeiten können - wenn man den damaligen Erkenntnisstand in der Bundesrepublik berücksichtigt - als grundlegende Analysen über die Ursachen und den Verlauf des 17. Juni 1953 angesehen werden.

Die historiographische Untersuchung des Aufstandes in der Bundesrepublik war durch ein erhebliches Quellendefizit geprägt. Die Forschung in DDR-Archiven zu diesem Thema war - nicht nur für westdeutsche Historiker - nicht möglich, so dass man sich vor allem auf Augenzeugenberichte und vereinzelt in den Westen gelangte Dokumente stützen musste.

Dieser Umstand war es auch, der bewirkte, dass sich innerhalb der westdeutschen Historiographie das Bedürfnis nach einer Untersuchung des Aufstandes mit den beiden erwähnten Arbeiten bis in die Mitte der 1970er Jahre weitgehend erschöpft hatte.

Verschiedene Augenzeugen- und Erlebnisberichte über den Aufstand wurden in der Bundesrepublik veröffentlicht. Im Jahre 1956 publizierte Rainer Hildebrandt eine Sammlung mit Berichten über neun unterschiedliche Schicksale von an den Ereignissen Beteiligten. Diese Arbeit wurde 1983 - ergänzt durch einen weiteren Bericht - neu veröffentlicht. Der Autor stellte anhand von Gedächtnisprotokollen in dokumentarischer Form die individuellen Erlebnisse verschiedener Personen mit unterschiedlichen Tätigkeitsprofilen vom 17. Juni 1953 dar. Des weiteren enthielten die Memoiren der 1953 im Partei- bzw. Staatsapparat der DDR tätigen Heinz Brandt und Fritz Schenk Berichte über ihr individuelles Erleben der Aufstandsereignisse in den Machtzentren der DDR.

In einem 1980 veröffentlichten Aufsatz konstatierte Axel Bust-Bartels, "daß sich die wissenschaftliche Analyse des Aufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR auf einem bemerkenswert niedrigen Niveau befindet". Der die westdeutsche Historiographie in dieser Art kritisierende Autor, der in seiner Arbeit die Entwicklung der Arbeiterschaft in der SBZ/DDR nach 1945 und ihre Rolle während der Ereignisse um den 17. Juni 1953 untersuchte, verfolgte einen neuen Ansatz bei der Untersuchung des Aufstandes: Er analysierte Einzelaspekte, welche er innerhalb eines zeitlich größeren Rahmens betrachtete. Bust-Bartels untermauerte in seiner Arbeit anschaulich die These vom Arbeiteraufstand.

Diese Entwicklung wurde zwei Jahre zuvor durch Karl-Wilhelm Fricke eingeleitet, der in einem Aufsatz die Rolle der DDR-Justiz bei der Ahndung der Aufstandsaktivisten untersuchte.

Bereits 1975 hatte Martin Jänicke eine Arbeit veröffentlicht, worin er erstmals neben den Ursachen auch die Folgen des Aufstandes analysierte. Er differenzierte zwischen unmittelbaren Reaktionen und langfristigen Resultaten. Zu den ersteren zählte er die Politik materieller Konzessionen gegenüber der Bevölkerung, die mit verschärften Repressalien gegen Kritiker und politische Gegner sowie mit einer Säuberung der Eliten von Partei und Verwaltung einher ging. Als in der DDR langfristig wirkende Resultate identifizierte er die Fortsetzung der industriellen Sozialisierung und landwirtschaftlichen Kollektivierung sowie die allmähliche Zurücknahme der gegenüber der Bevölkerung eingeräumten materiellen Konzessionen zugunsten einer verstärkten Kapitalakkumulation innerhalb der Industrie ab 1955.

1982 gaben Ilse Spittmann und Karl-Wilhelm Fricke einen Sammelband zum 17. Juni 1953 heraus, in welchem erstmals verschiedene Aufsätze zu Teilproblemen sowie Erinnerungen von Zeitzeugen zusammengefasst veröffentlicht wurden. Neben Frickes "Juni-Aufstand und Justiz" wurde hier u. a. ein Aufsatz von Gerhard Wettig zur sowjetischen Deutschlandpolitik im Frühjahr 1953 und eine Arbeit von Klaus Ewers und Torsten Quest über die Arbeitskämpfe im volkseigenen Industriesektor während und nach dem 17. Juni 1953 publiziert. Als Zeitzeugen wurden neben Heinz Brandt und Fritz Schenk auch Robert Havemann und Stefan Heym zitiert. Dieser Band stellte eine Zusammenfassung des damaligen Forschungsstandes dar und war gleichzeitig auch der letzte substanzielle Beitrag der Historiographie der alten Bundesrepublik zur Forschung über den Aufstand vom 17. Juni 1953.

Obwohl quasi alle Autoren, die in der Bundesrepublik eine Arbeit über die DDR-Geschichte der 1950er Jahre veröffentlicht hatten, dem Aufstand ihre Aufmerksamkeit zukommen ließen, blieb die historiographische Aufarbeitung des 17. Juni 1953 in der Bundesrepublik - im Vergleich zur politischen Inanspruchnahme - begrenzt.

Als grundlegende, kaum umstrittene Thesen hatten sich in der wissenschaftlichen Diskussion die Auffassungen herausgebildet, dass der Aufstand hauptsächlich von Arbeitern getragen wurde, welche das sie umgebende Gesellschaftsmodell in der Mehrheit nicht beseitigen, sondern reformieren, d. h. für die Individuen lebenswerter gestalten wollten. Die wichtigste langfristige Entwicklung, die durch den Aufstand ermöglicht wurde, war die allmähliche Stärkung des Regimes in seiner Stellung gegenüber der Bevölkerung und in dem von der UdSSR beherrschten politischen System.

Der ab 1990 innerhalb der gesamtdeutschen wissenschaftlichen Diskussion hauptsächlich verfolgte Ansatz zur Untersuchung von Teilaspekten des Aufstandes wurde innerhalb der altbundesdeutschen Historiographie entwickelt.

In der DDR setzten sich die Historiker offiziell nicht mit dem 17. Juni 1953 auseinander. Für ihre Arbeit auf dem Gebiet der Zeitgeschichte waren die ideologischen Vorgaben und politischen Bedürfnisse der SED maßgebend.

Zunächst aber hatte die SED noch im Jahre 1953 in unmittelbarer Folge des Aufstandes einen Propagandafeldzug inszeniert, durch den der Bevölkerung die offizielle Interpretation des Aufstandes nahe gebracht werden sollte. Die SED gab ihren Funktionären - neben den offiziellen Parteimaterialien - einige publizistische Veröffentlichungen zur Unterstützung ihrer Argumentation in dieser Kampagne zur Hand. So wurde 1953 vom Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschlands eine Broschüren herausgegeben, die unter dem Titel "Der Tag X" in dokumentarischer Form nachweisen sollte, daß der Aufstand vom 17. Juni eine faschistische Kriegsprovokation gewesen sei. Ein Pamphlet mit vergleichbarem Anspruch wurde am 1. August 1953 unter dem Titel "Der 17. Juni 1953. Eine Dokumentation über die faschistische Provokation" in der Propagandareihe "Dokumentation zur Zeit" des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte veröffentlicht. Die Publizierung von sechs ausgewählten Artikeln der Prawda, die den außenpolitischen Kontext der Entwicklungen in der DDR aus der Sicht der KPdSU-Führung widerspiegeln sollten, markierte in der DDR das Ende der publizistischen Auseinandersetzung mit dem Aufstand.

Bis in die Mitte der 1970er Jahre bildete der Aufstand innerhalb der historischen Literatur der DDR ein Tabu. Wurde er erwähnt, dann höchstens in Überblicksdarstellungen und auch da nur am Rande, wie beispielsweise in der Monographie von Werner Horn zur Entwicklung der Industrie in der DDR aus dem Jahre 1963. Die Ereignisse vom Juni 1953 wurden hier stereotyp als "Ausdruck der berüchtigten imperialistischen Politik des 'roll back'" der USA und Westdeutschlands gewertet. Einem ursächlichen Zusammenhang mit den Verfehlungen der Politik des Aufbaus des Sozialismus in der DDR wurde ausdrücklich widersprochen. Vergleichbare Erklärungsmuster wurden für den 17. Juni 1953 in der DDR-Geschichte von Stefan Doernberg, im dreizehnten Kapitel der "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" und in der vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgegebenen Arbeit "Klassenkampf/Tradition/Sozialismus" verwendet, obgleich man hierin bereit war, gewisse Fehlentwicklungen in der Politik der SED im Frühjahr 1953 einzuräumen, wobei diese durch den Neuen Kurs vom 9. Juni 1953 korrigiert werden sollten.

Die hier angewandte Argumentation folgte einer Interpretation der Ereignisse, die unmittelbar nach dem 17. Juni 1953 im Auftrag Walter Ulbrichts durch eine Kommission von vier Sekretären des ZK der SED erarbeitet wurde und sich während der SED-internen Auseinandersetzungen im Juni und Juli 1953 gegen abweichende Auffassungen durchgesetzt hatte. Diese Interpretation des 17. Juni 1953 wurde zur offiziellen Darstellung der SED erhoben und behielt während des gesamten Zeitraums der Herrschaft Walter Ulbrichts, der mit dem Aufstand wohl ein persönliches Trauma verband, quasi unverändert ihre Gültigkeit.

In dem 1978 erschienenen Abriss der Geschichte der SED konstatierte das herausgebende Politbüro des ZK der SED in den Jahren 1952/53 eine verfehlte Wirtschaftspolitik der SED und der Regierung der DDR, welche eine Verschlechterung der Lebenssituation der Bevölkerung mit sich brachte. Die Korrektur dieser Politik erfolgte am 9. Juni 1953 durch den Beschluss des Neuen Kurses, doch wurde dadurch die Unzufriedenheit und Missstimmung unter den Werktätigen nicht automatisch beseitigt, so dass diese Situation von den Feinden des Sozialismus im Inneren der DDR unter Anleitung westlicher Geheimdienste für einen konterrevolutionären Putschversuch ausgenutzt werden konnte. Die Abkehr von der Theorie der externen Inspiration des Aufstandes kennzeichnete eine gewisse Zäsur in der Rezeption dieser Ereignisse innerhalb der DDR-Historiographie. Hier wurde eine offizielle Sprachregelung erlassen, die für die Bearbeitung dieses Problems bis 1989 Gültigkeit behielt. In den 1980er Jahren wurden die Ereignisse um den 17. Juni 1953 durchaus detaillierter als vor 1978 beschrieben, wobei das durch das Politbüro gesetzte ideologische Paradigma nicht außer acht gelassen und die Exzessivität der Ereignisse als Ergebnis der Tätigkeit des Klassengegners dargestellt wurde.

Durch den politischen Umbruch in der DDR in den Jahren 1989 und 1990 entstand für die Historiographie eine grundlegend veränderte Arbeitssituation. Die weitgehende Öffnung der Archive von SED, staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen brachte auch für die Untersuchung des 17. Juni 1953 neue Möglichkeiten mit sich. Verschiedene DDR-Historiker schickten sich zunächst an, die von ihnen bisher vertretenen Interpretationen zu korrigieren, ehe sie aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED Dokumente erschlossen, welche die Entwicklungen in der DDR im Frühjahr 1953 nachvollziehbarer erscheinen ließen.

Sowohl in der DDR-Bevölkerung als auch in der Partei- und Staatsnomenklatur lebte fast während des gesamten Zeitraumes der Existenz der DDR ein legendenhaftes Bild der Ereignisse des 17. Juni 1953 fort. Diese Bild wurde durch ein offiziell betriebenes Verdrängen der damaligen Ereignisse aus dem öffentlichen Bewusstsein hervorgerufen, das alljährlich zum Tag der deutschen Einheit durch fragmentelle Informationen aus publizistischen Beiträgen westdeutscher Medien, die auch durch die DDR-Bevölkerung konsumiert werden konnten, durchbrochen wurde. Dieses Aufarbeitungsdefizit ließ insbesondere innerhalb der gehobenen Chargen von Partei- und Staatsfunktionären eine Phobie vor dem als Synonym für eine tiefe Staatskrise verstandenen 17. Juni existent werden.

Unter der DDR-Bevölkerung wurde der Aufstand durchaus mehr als bedeutendes, da tabuisiertes Fanal des Widerstandes gegen eine umfassende Bevormundung durch Partei und Staat - welche im Laufe der Entwicklung der DDR weiter zunahm - erahnt, als verstanden. Dieses unterschwellig vorhandene Bewusstsein der Bedeutung des Aufstandes kann wohl auch als Erklärung dafür gewertet werden, dass die wissenschaftliche Analyse der 17. Juni 1953 während und nach den politischen Umbrüchen insbesondere unter Historikern, die in der DDR arbeiteten, durchaus eine Konjunktur erfahren hat. Offenbar erhoffte man aus der Untersuchung der Ereignisse von 1953 Erklärungsmuster für den Zusammenbruch des SED-Regimes im Jahre 1989 ableiten zu können.

Durch die nach 1989 sukzessiv erfolgende Auswertung der Quellen, die in Archiven von SED und Staatsapparat erschlossen wurden, konnten die in der alten Bundesrepublik entstandenen Forschungsergebnisse zum 17. Juni 1953 weitgehend verifiziert und in vielen Details konkretisiert werden. Manfred Hagen verknüpfte im Jahre 1992 in der Monographie "DDR - Juni 1953. Die erste Volkserhebung gegen den Stalinismus" den überkommen Wissensstand mit den Ergebnissen neuerer Forschungen, wobei er hierbei die Ereignisse systematisch und regionalspezifisch zusammenfasste.

Neben einer Studie von Torsten Dietrich, in welcher der Autor einen prägnanten Überblick über die seit 1989 gewonnenen Erkenntnisse zu Ursachen, Verlauf und Folgen des Aufstandes gab, setzte man sich innerhalb der gesamtdeutschen Historiographie nun vor allem mit Teil- und Einzelaspekten der Ereignisse auseinander.

Die Untersuchung von Ereignissen im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 auf regionaler oder lokaler Ebene wurde dagegen nach 1989 nur marginal vorangetrieben. Manfred Hagen fasste in seiner bereits erwähnten Arbeit alle bis dato aus Augenzeugenberichten und neueren Forschungen bekannten Fakten über den Verlauf der Ereignisse in verschiedenen Aktionszentren (u. a. Berlin, Brandenburg, Leipzig, Dresden, Görlitz, Jena, Gera, Halle-Merseburg, Bitterfeld, Magdeburg) zusammen. Den regionalspezifischen Arbeiten von Karl-Wilhelm Fricke, Angelika Klein, Andreas Peter, Manfred Rexim, Heidi Roth, Klaus Schwabe und Dagmar Semmelmann lagen dagegen hauptsächlich die nach 1989 erschlossenen Quellen aus Partei- und Staatsarchiven der DDR zugrunde. Jedoch bezogen sich diese Untersuchungen - lässt man die Arbeit von Dagmar Semmelmann außer acht, die sich mit sozialgeschichtlichen Wahrnehmungsprofilen von Werktätigen des Eisenhüttenkombinates Ost (Stalinstadt/ Eisenhüttenstadt) beschäftigte - auf die mittleren Verwaltungsebenen (Bezirke). Zum Teil werteten die Autoren lediglich den Bestand eines Archivs aus; beispielsweise nutzten Angelika Klein und Heidi Roth nur die bezirklichen SED-Archive, was deren Darstellungen einseitig - durch die Brille der Parteinomenklatur betrachtet - erscheinen lässt.

Eine Analyse des Aufstandes, die sich auf einen Ort, einen Landkreis oder ein Industrierevier bezieht, wurde bisher nicht veröffentlicht. Die wissenschaftliche Forschung weißt in diesem Punkt ein erhebliches Defizit auf. Gerade durch umfassende Untersuchungen der Ereignisse in den verschiedenen Aktionszentren - dort wo die Bevölkerung ihren Widerstand gegen die SED und die Regierung der DDR entfaltet hatte - sollten die Grundlagen für eine umfassende sozialgeschichtliche Bewertung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 geschaffen werden.

In der historiographischen Debatte der letzten Jahre haben sich die grundlegenden Thesen zu Ursachen, Verlauf und Folgewirkungen des 17. Juni 1953, die innerhalb der altbundesdeutschen Historiographie von Arnulf Baring, Martin Jänicke, Karl-Wilhelm Fricke u. a. entwickelt wurden, im allgemeinen bestätigt. Lediglich die Charakterisierung der Qualität der Ereignisse ist wieder heftig in die Diskussion geraten. Hatte man sich innerhalb der wissenschaftlichen Debatte in der alten Bundesrepublik weitgehend auf den Begriff Arbeiteraufstand einigen können, so differenzierte sich die Deutung des 17. Juni 1953 in den nach 1989 erschienenen Arbeiten zwischen Volksaufstand und Arbeiterrevolte.

Die Ursprünge der sich stark unterscheidenden Charakterisierungsvorschläge liegen offenbar in den verschiedenen Sozialisationserfahrungen der einzelnen Autoren in der DDR und der Bundesrepublik sowie in ihrem Umgang mit diesem Problem bis 1989 begründet.

Nur eine umfassende Untersuchung der damaligen Ereignisse auf lokaler und regionaler Ebene könnte die Grundlage für eine fundierte Neubewertung des Charakters des 17. Juni 1953 bilden.

Der Aufstand wurde bisher in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik vor allem als Massenerscheinung aufgefasst und dargestellt, die gleichzeitig in mehreren hundert Orten der DDR auftrat und an der mehrere hunderttausend Menschen teilnahmen. Diese vereinfachende Darstellungsweise lag teilweise in den verfügbaren Informationen, aber auch in ihrem politischen Zweck begründet.

Jedoch macht eine realistische Bewertung der damaligen Ereignisse eine weitgehend differenzierende Betrachtung der unterschiedlichen Ereignissen an den unterschiedlichen Orten notwendig. Sicher war die Lebenssituation der Bevölkerung in der gesamten DDR durchaus vergleichbar, doch wie war es möglich, dass diese Bevölkerung gleichzeitig an mehreren hundert Orten gegen Staat und SED aufbegehrte? Was waren in den verschiedenen Aktionszentren die unmittelbaren Ursachen des Widerstandes? Waren diese Ursachen vergleichbar oder lassen sich hier erhebliche Differenzen feststellen? Spielten die Informationen westlicher Rundfunksender über die Berliner Streiks und Unruhen vom 15. und 16. Juni bei der Initiierung der lokalen Widerstandsaktionen wirklich die entscheidende Rolle? War der Ablauf der Ereignisse an den verschiedenen Orten in Intensität und Qualität vergleichbar oder lassen sich hier gravierende Differenzen feststellen? Waren die der Bevölkerung und den Aufstandsaktivisten aus den Ereignissen resultierenden Konsequenzen vergleichbar?

In meiner Arbeit möchte ich die Ereignisse um den 17. Juni 1953 im Industrierevier Bitterfeld-Wolfen untersuchen, um damit einen Beitrag für eine differenzierte Neubewertung des Aufstandes auf der Grundlage von Ereignisanalysen für lokale und regionale Aktionszentren zu leisten.

Die oben aufgeworfenen vergleichenden Fragestellungen werde ich in meiner Arbeit freilich nicht beantworten können. Doch will ich in meiner Analyse zum Industrierevier Bitterfeld-Wolfen bereits die systematischen Grundlagen für eine später anzufertigende vergleichende Analyse schaffen, die es mir dann ermöglichen, jene Fragestellungen auch auf Grund der in dieser Arbeit herausgearbeiteten Informationen zu untersuchen.

Das Industrierevier Bitterfeld-Wolfen, welches man strukturell mit dem Kreis Bitterfeld gleichsetzen kann, war während der Existenz der DDR ein wichtiges Zentrum der chemischen Industrie mit drei um die letzte Jahrhundertwende gegründeten Großbetrieben, die als Hauptarbeitgeber im Kreis auftraten und mithin strukturbestimmend waren. Bitterfeld war am 17. Juni 1953 eines von drei großen Aktionszentren im industriell geprägten Bezirk Halle.

Neben einer Rekonstruktion der Ereignisse am 17. Juni 1953 und an den folgenden Tagen möchte ich in meiner Arbeit untersuchen, ob die grundlegenden Thesen der bundesdeutschen Historiographie zum Aufstand auch auf das Industrierevier Bitterfeld-Wolfen anwendbar sind. Weiterhin möchte ich die Charakteristik der damaligen Ereignisse in diesem Gebiet analysieren. Welche Einflüsse inspirierten hier die Widerstandsaktionen, und welche Bevölkerungsschichten initiierten und trugen diese? Was war im Kreis Bitterfeld spezifisch am Verlauf der Ereignisse vom 17. Juni 1953? Welche Folgewirkungen hatten die Widerstandsaktionen für die Bewohner des Kreises und insbesondere die Aktivisten der Streiks in den Betrieben? Und schließlich möchte ich an Beispielen untersuchen, wie verschiedene Beteiligte die Ereignisse im Kreis Bitterfeld vom 17. Juni 1953 reflektiert haben?

Für eine umfassende Untersuchung der Ereignisse des 17. Juni 1953 innerhalb eines lokalen Aktionszentrums ist die Erschließung aller relevanten Quellen notwendig. Dieser Erkenntnis Rechnung tragend, habe ich mich bemüht, alle Quellenbestände auszuwerten, die Informationen über den 17. Juni 1953 im Industrierevier Bitterfeld-Wolfen enthalten könnten.

Innerhalb der SED und der Sicherheitsorgane der DDR wurden zu den Ereignissen des 17. Juni 1953 gesonderte Akten angelegt; gleichzeitig wurde für den entsprechenden Zeitraum das normale Berichtswesen unterbrochen. Die Materialiensammlungen zum 17. Juni 1953 sind grundsätzlich sehr detailliert, was dadurch begründet ist, daß diese Akten unter Verschluss gehalten und aus ihnen offenbar keine Unterlagen kassiert worden waren. Zu welchem Zeitpunkt diese Akten angelegt wurden, konnte nicht festgestellt werden.

In den Beständen des Archivs der Bezirksleitung Halle der SED sind derartige Akten von den Betriebsparteiorganisationen (BPO) des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld (EKB) und der Farbenfabrik Wolfen, der SED-Kreisleitung Bitterfeld und der SED-Bezirksleitung Halle nachzuweisen.

Aus dem Bereich des Ministeriums des Inneren der DDR, d. h. den verschiedenen Dienststellen der Polizei, sind Akten der Betriebsschutzämter (VPA (B)) des EKB, der Film- und Farbenfabrik Wolfen, des Haftarbeitslagers (HAL) Bitterfeld, des Volkspolizei-Kreisamtes (VPKA) Bitterfeld sowie der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Halle im Archiv der BDVP Halle überliefert worden. Daneben lassen sich in den Unterlagen der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (HVDVP) Information über das Industrierevier Bitterfeld-Wolfen nachweisen. Innerhalb der Polizei wurde von der HVDVP nach dem 17. Juni 1953 eine umfangreiche Untersuchungstätigkeit entfaltet, die sich vor allem auf die am 17. Juni 1953 versagenden Dienststellen - wozu u. a. auch das Bitterfelder VPKA gehörte - konzentrierte. Hier sind verschiedene Berichte über Instruktionseinsätze im VPKA Bitterfeld, in den erwähnten Betriebsschutzämtern, in der Untersuchungshaftanstalt (UHA) sowie dem HAL Bitterfeld nachzuweisen.

In den überlieferten Unterlagen der staatlichen Verwaltungen - Rat der Gemeinen, Rat des Kreises Bitterfeld, Rat des Bezirkes Halle - sind dagegen keine Unterlagen über die Vorgänge vom 17. Juni 1953 überliefert.

Auch in den Beständen der Betriebsarchive des EKB, der Farben- und Filmfabrik Wolfen konnten zu diesem Komplex nur wenige bzw. keine Unterlagen nachgewiesen werden.

Weiterhin konnte von mir erstmals ein Dossier mit 116 personenbezogenen Untersuchungsvorgängen aus dem Archiv der Außenstelle Halle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ausgewertet werden. Hierbei handelt es sich um Vernehmungs- und Prozessakten zu Ermittlungsverfahren gegen Streikaktivisten aus dem Industrierevier Bitterfeld-Wolfen.

MfS-interne Unterlagen aus den 1950er Jahren, die eventuell über die Tätigkeit der MfS-Dienststelle Bitterfeld Auskunft geben könnten, wurden noch nicht aufgearbeitet. Allerdings ist anzunehmen, dass auch in diesem Bereich gesonderte Akten zu den Vorgängen des 17. Juni 1953 angelegt wurden.

Der größte Teil der Quellen, auf die ich mich stützen konnte, wurden innerhalb staatlicher Organe der DDR angefertigt. Die Arbeit mit einer solchen Art von Quellen setzt freilich eine gewisse Distanz zu den in ihnen enthaltenen Informationen zu den Vorkommnissen des 17. Juni 1953 voraus. Diese Quellen wurden als Arbeitsmaterialien zur Realisierung spezifischer Aufgaben angefertigt; sie dienten der Erfassung, Eindämmung, späteren Ahndung und offenbar auch der Dokumentation - da sie nicht vernichtet wurden - der Widerstandsaktionen der Bevölkerung. Sie wurden durch eine bürokratische und ideologische Sichtweise ihrer Verfasser geprägt. Die hierin begründeten Defizite werde ich aber dadurch auszugleichen versuchen, indem ich parallel Quellen heranziehe, die in unterschiedlichen Verwaltungsbereichen und im SED-Apparat entstanden. Die unterschiedlichen Aufgabenprofile dieser verschiedenen Bereiche ließen die jeweiligen Verfasser unterschiedliche Schwerpunkte bei der Erarbeitung ihrer Unterlagen setzten, so dass man durch kritischen Vergleich der aus den unterschiedlichen Quellen gewonnenen Informationen diese wohl weitgehend verifizieren bzw. falsifizieren kann.

Zudem muss die Glaubhaftigkeit bestimmter Quellen dieser Art in Frage gestellt werden. So überwanden beispielsweise die Kader der SED nach dem 17. Juni 1953 recht schnell ihre Schockiertheit und fanden schnell in den bewährten erfolgsorientierten Berichtsstil zurück, so dass die aus den SED-Quellen zu gewinnenden Informationen ab einem bestimmten Zeitpunkt unrealistisch erscheinen und demzufolge nicht nutzbar sind. Diese Tendenz verstärkte sich offenbar auf gehobeneren Ebenen zunehmend.

Ich konnte nur wenige Quellen nachweisen, die nicht in staatlichen Stellen entstanden waren. So befindet sich beispielsweise im Stadtarchiv Bitterfeld eine Akte mit Erinnerungen des Streikaktivisten Wilhelm Fiebelkorn, der nach dem 17. Juni 1953 nach Westberlin flüchtete. Er berichtete auf 19 maschinenschriftlichen Seiten über seine Erlebnisse an diesem Tag, wobei er für bestimmte Phasen des Geschehens, die von staatlichen Stellen nicht dokumentiert werden konnten, quasi die einzige Quellengrundlage darstellt. Auch sein Bericht - den er offenbar erst einige Jahre nach den Ereignissen niedergeschrieben hatte - wurde durch persönliche Sichtweisen und Empfindungen geprägt und durch die Erinnerung etwas verfremdet.

Weitere Augenzeugenberichte lassen sich im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung nachweisen, die in ihnen enthaltenen Informationen tragen jedoch allgemeinen Charakter und dienten mir lediglich zur Verifikation von Informationen, die ich aus anderen Quellen gewinnen konnte.

Weiterhin habe ich die Regionalausgabe Bitterfeld der Freiheit, dem Organ der SED-Bezirksleitung Halle, und die Betriebszeitungen Fortschritt, Organ der SED-BPO des EKB, und Farbenspiegel, Organ er SED-BPO der Farbenfabrik Wolfen, zu diesem Thema ausgewertet.

Bei der zitierenden Wiedergabe von Quellen werde ich sowohl die äußere Form, die teilweise durch elektrotechnische Übertragungsverfahren (Telex/Telegramm) bestimmt wurde, als auch die durch spezifische Ausdrucksformen beeinflusste Orthographie und Grammatik in unveränderter Form wiedergeben. Offensichtliche Fehler der Verfasser werde ich kenntlich machen, wobei ich erklärende oder die Lesbarkeit erleichternde Interpolationen und Ellipsen entsprechend markiere.

Meine Arbeit soll über den Rahmen der Forschung zum 17. Juni 1953 auch einen Beitrag zur Darstellung der jüngeren Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt und des Landkreises sowie der Stadt Bitterfeld liefern.

Kapitel 2

Kapitel 2

Inhalt

Inhalt

© Olaf Freier (1995)